Karthago kommt zurück

25. Oktober 2019

Meine Geschichte | Claudia Müller

 

Vor mehr als 28 Jahren habe ich im Ruhrgebiet gewohnt und meine Freizeit nach einem anstrengenden Bürotag bei einem Pferdehändler verbracht, um seine Pferde zu reiten und zu pflegen. Dort habe ich Kirsten kennengelernt. Eigentlich hatten wir nicht viel miteinander zu tun, dennoch mochten wir uns.

 

Nachdem ein Pferdekäufer mich quasi „abgeworben“ hatte, schlief unser Kontakt ein. Irgendwann erfuhr ich, dass sie ein Pferd suchte. Ich kannte ihren Geschmack und hatte vielleicht ein passendes Pferd für sie. Mein Bekannter hatte aus Holland einen kleinen Fuchshengst mitgebracht. Er war gerade mal sechs Monate alt, und ich fand ihn wunderschön und niedlich. Ich musste sofort an Kirsten denken und rief sie an. Sie solle ihn sich doch einfach mal anschauen. Gesagt getan und kurze Zeit später stand „Karthago“, so hatte sie ihn genannt, bei ihr im Stall.

Wir verloren uns etwas aus den Augen, aber ab und zu besuchte ich sie und den kleinen Fuchs. Auch als sie umgezogen war, besuchte ich sie in dem neuen Stall.

 

So lief es ein paar Jahre bis sie mir von ihren finanziellen Sorgen erzählte. Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, wenn es mal soweit käme, „Karthago“ zu übernehmen. Ich bejahte das sofort, ohne das mit meinem Lebensgefährten abzusprechen. Ich dachte nicht, dass es Monate später tatsächlich soweit kommen würde.

 

Zwischenzeitlich war ich Mutter einer kleinen Tochter geworden und wohnte über 200 km vom Ruhrgebiet entfernt. Dennoch machte ich mich auf den Weg, die gute Seele keinem anderen zu überlassen. Kirsten hatte nämlich versucht, ihn zu verkaufen, aber keiner hatte wirklich Interesse bekundet. Außer einem dubioser Händler, der ihr auch einen guten Preis bot, was sie allerdings ablehnte, da sie meinen Zusage ja hatte.

 

Da sich ihre Situation nicht verbesserte, vereinbarten wir einen Abholtermin. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich Karthago lediglich mal geführt, aber nie geritten oder ihn vor der Kutsche gefahren. Zufälligerweise fiel der Abholtermin auf eine Familienfeier von Kirsten. Im Nachhinein sagte sie mir, dass es genau der richtige Zeitpunkt war, so konnte sie sich einigermaßen gut ablenken.

 

Am Abholtag war sie sehr traurig. Auch ich musste ein paar Tränen lassen. In der Verabschiedungsszene bat sie mich mehrmals inständig, gut auf ihn aufzupassen. Er war ihr Baby, ihr Bautz und neben ihrer Tochter das Wichtigste in ihrem Leben. Und wenn ich ihn aus welchen Gründen auch immer nicht gerecht werden könne, sollte ich ihr Bescheid sagen, dann würde sie alles tun, um ihn wieder aufzunehmen oder um eine andere auch gute Lösung zu finden. Es waren sehr emotionale Minuten. Gut dass die Familienfeier nicht wirklich viel Zeit für derart traurige Gedanken zuließ.

 

Die Fahrt nach Niedersachsen verlief ruhig. Wir stallten im Nachbarort ein, wo es ein wenig dauerte, bis Karthago „angekommen“ war. Neues Gelände, neue Gerüche, fremde Personen, alles vollkommen anders. Ich gab ihm die Zeit, die er brauchte. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich ihn nie geritten. Ich wusste gar nicht, wie er unterm Sattel war, ich wusste nur, dass er ein ganz tolles Pferd war. Verliebt war ich ja schon, seit ihn das erste Mal gesehen hatte.

 

Ich hatte genügend Respekt vor seiner Ausstrahlung, dennoch musste er ja auch was tun. Wir lernten uns bei viel Bodenarbeit sehr gut kennen und das Vertrauen wuchs. Zirzensische Lektionen machen ihm heute noch sehr viel Spaß. Meine Tochter konnte ein paar Wochen später gerade mal einigermaßen sicher laufen, da wollte sie mit ihm durch die Halle gehen. Sie hatte es ja oft bei mir gesehen. Also nahm sie den Strick und lief los. Und er folgte ihr brav. Als ich bemerkte, dass er etwa ungeduldig wurde, reichte ein kleiner Ton vor mir und er benahm sich wieder.

 

Natürlich hatten wir auch Meinungsverschiedenheiten, aber da ich ihn als den wundervoll, ehrlichen und auch geduldigen Charakter wahrnahm, der er war, konnten wir (auch wenn es vom Stall viel Gelächter und viel Geflüster gab) diese recht schnell und ohne Strafe aus dem Weg räumen. Denn ich hatte gelernt, ihn zu sehen und ihm zuzuhören.

 

Es gab immer wieder Situationen, die bestätigten, dass ich meinen kleinen Fuchs sehr gut kenne. Ich hatte bei meinen Reiterkollegen leider mit viel Hohn zu kämpfen, denn dass man mit einem Pferd „spricht“ (wenn auch nur mit Körpersprache) oder es „liest“ (seine Reaktionen auf meine Aktionen) war noch nicht wirklich angekommen. Erst als Monty Roberts populärer wurde, verstummten die ein oder anderen höhnischen Gelächter oder Bemerkungen. Die vertrauensbildenden Maßnahmen wurden nun schon mal selber ausprobiert. Natürlich klappte soetwas nie auf Anhieb. Aber anstatt mich zu fragen oder Rat zu holen, sah ich mehr und mehr nervöse Reaktionen und sauer werdende Pferde und Ponys. Ich hatte mir seinerzeit geschworen, ungefragt keine Tipps mehr zu geben.

Eine gute Freundin nahm meine Tipps gottseidank an. Ich habe Ihr Pferd in den Reitstunden beobachtet. Es hatte ihr oft seine Luft- und Atemprobleme gezeigt, sie war aber zu unerfahren, um dies zu sehen. Nachdem ich ihr verschiedene Symptome und seine Ausdrucksweise erklärt hatte, kam er in die Klinik und hatte die Chance gesund zu werden.

 

Durch die Trennung von meinem Mann und der jobtechnischen und somit auch finanziellen Situation musste ich einige Male umziehen. Letztendlich landete ich in Paderborn. Auch hier profitierte ich von dem (wie ich anhand anderer Pferde leider feststellen musste) megaguten Verhältnis zu Karthago. Ich hatte nie Fahrradfahren mit ihm geübt, aber er lief wie ein alter Hase neben mir am Fahrrad her. Auch als dann mal ein Reh aus dem Büschen sprang und er sich verständlicherweise erschrak, blieb er bei mir.

 

Ich kann von so vielen ähnlichen Situationen erzählen, bei denen unsere nonverbale Kommunikation und unser gegenseitiges Vertrauen half, nicht ungefährliche Momente zusammen zu meistern.

 

Er reagiert ohne Druck, ohne das ihm etwas anerzogen wurde, zu 90 % richtig. Mir war und ist bewusst, dass Missverständnisse in der Regel ein Kommunikationsfehler meinerseits sind. So ist er mir nie böse, und ich ihm auch nicht, wenn mal etwas nicht sofort klappt. Durch sein Verhalten kann er mir mitteilen, wenn er etwas nicht verstanden hat. Wenn mir sowas bewusst wurde und auch heute noch wird, jagt es mir einen Gänsehautschauer durch den Körper.

 

Im Jahr 2017 musste ich mich einer Knie-OP unterziehen. Das Reiten ist seitdem nicht mehr möglich. Mir fehlt das Gefühl in einem Bein. Um ihn nicht durch zu viel Druck oder schiefem Sitz zu verunsichern, arbeiteten wir nur noch vom Boden aus oder waren mit der Kutsche unterwegs. Kleine Kindern lernten von ihm die ersten Schritte des Horsemanships und auch das Reiten.

 

Da er ein sehr kurzes Pferd ist, hat er die Veranlagung zu Kissing Spin, welches im fortschreitenden Alter mehr und mehr sichtbar wurde. Jedes Mal, wenn er mir zeigte, dass mal wieder Reitergewicht störte, sagte ich die Reitstunden ab. Wieder ging es ihm rückentechnisch nicht so gut. Er war zwar gut gelaunt, dennoch konnte ich an seinem Verhalten erkennen, es stimmt etwas nicht. In der Regel war es der Rücken. Die gut erlernten Dehnübungen halfen nicht. Nachdem die Physiotherapeutin ehrlicherweise erklärte, sie käme nicht mehr wirklich durch, stellte ich ihn kurze Zeit später einem Tierarzt vor. Das Ergebnis war nicht so gut. Jetzt war es soweit. Sein Kissing Spin war altersbedingt so fortgeschritten, dass er bitte kein Gewicht mehr tragen sollte. Des Weiteren hatte er eine Altersarthrose in beiden Fesselgelenken vorn entwickelt.

 

Weitere Untersuchungen brauchte es nicht, um zu beschließen, Karthago ist ab sofort Rentner. Meine Bemühungen eine Weide oder Paddockbox zu finden scheiterten. In unserer Umgebung hatten zwei Ställe geschlossen, also habe ich mich weiter entfernt umgeschaut. Nach fast einem Jahr hab ich aufgegeben, zu suchen. Denn durch seine leider immer wieder und gerade zum Herbst und Frühjahr auftretende Strahlfäule, kamen nicht sehr viele Reitställe in Betracht. Auch konnte ich keine Unsummen zahlen.

 

Ende Herbst/Anfang Winter 2017 fragte ich dann schweren Herzens Kirsten, ob unsere Vereinbarung noch gilt und ob sie es realisieren könnte, Karthago wieder aufzunehmen. Ich fuhr zu ihr und wir besprachen alles. Ihre Zusage kam innerhalb von Sekunden. Sie hat seit einigen Jahren wieder einen eigenen Stall, der zwar voll besetzt war, aber für ihr Seelenpferd würde sie es möglich machen.

 

Im Januar 2018 habe ich Karthago zu ihr (zurück) gebracht. Die treue Reitbeteiligung, meine Tochter und ich waren sehr traurig und haben auch viel geweint. Auch Kirsten hat geweint, aber vor Glück. Und bei Facebook hat sie vor lauter Glück gepostet „Er ist wieder da!“. Karthago war allerdings beleidigt, dass ich ihn da gelassen habe. Aber das legte sich schnell, denn Kirsten hat genau so ein gutes Einfühlungsvermögen für Ihn wie ich. Und durch meine Erklärungen und Tipps war er schnell angekommen und fühlt sich sehr wohl bei ihr.

 

Sie hat sich so oft bedankt, dass es ihm bei mir so gut ergangen ist, dass er so einen freundlichen Charakter behalten hat etc etc. (Mir kommen gerade wieder die Tränen.)

 

Auch heute besuche ich ihn mindestens alle 3 Monate. Und Kirsten sagt, dass er immer noch das Pferd ist, was sie mir damals voller Vertrauen überlassen hat, nur eben älter und vernünftiger in seiner Art. Er wäre super erzogen und ist natürlich in seinem Alter ab und an schon mal etwas merkwürdigt, aber nie unverständlich und nie ungeduldig. Kirsten hat zugegeben, dass das, was ich mit ihm gemacht habe und wie wir miteinander umgegangen sind, genau das richtige für ihn gewesen sei. Sie sagte, sie habe, nachdem sie sich wieder einigermaßen finanziell berappelt hatte, nie wieder so ein Pferd gehabt.

 

Trotz seines freundlichen Wesens musste sie ihn 6-jährig legen lassen, er fing an stärker zu werden und auch sich dessen bewusst zu sein. Ein anderer Hengst im Stall hatte ihm gezeigt, wie man z.B.  einfach aus einer Weide ausbricht. So wurde dieser Entschluss des Legenlassens gefasst.

 

Im Dezember sehe ich ihn wieder und auch dann wird er mich erkennen und auf mich zukommen und mich fragen, was wir beiden jetzt zusammen machen wollen. Dann werde ich ihm sein Halfter zeigen und er wird seinen Kopf da rein drücken. Und beim Spazierengehen werde ich ihm dann nach Abfrage ein paar zirzensischen Lektionen sein Gras am Wegesrand lassen.

 

 

Liebe Grüße

Claudia Müller

Paderborn

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