Die Vorderlastigkeit des Pferdes 

11. Oktober 2019

Alte Meister | Nicole Weinauge

Das Pferd bewegt sich über die Schubkraft der Hinterhand und die Zugkraft der Vorhand vorwärts, damit es jederzeit beschleunigen kann, wenn eine Flucht notwendig erscheint. Mit dem Reitergewicht auf dem Pferderücken verändert sich der natürliche Bewegungsablauf. Was das für Training, Gymnastizierung und Bewegungsabläufe bedeutet, dazu haben sich schon die Alten Meister Gedanken gemacht.

Um die Bewegung zu starten, drückt sich das Pferd von der hinteren Zehe ab und baut darüber Druck auf. Dann streckt es das Hinterbein während es anschiebt. So wird der Druck in Schubkraft umgewandelt. Diese arbeitet sich über das Myofasziale Netzwerk nach oben, Richtung Iliosakral- und Lumbosakralgelenk. Diese Gelenke übertragen durch das Vorkippen des Beckens in Richtung Vorhand, die Schubkraft auf den Ansatz des langen Rückenmuskels, der in Verbindung mit weiteren beteiligten Muskeln weitere Impulse nach vorne abgibt und so die Körpermasse über die Lenden- und Brustwirbelsäule in Richtung Vorhand, zum Schwerpunkt des Pferdes verschiebt. Das Pferd senkt den Widerrist und die Halsbasis vor den Schultern ab, um das Gewicht in Richtung Erdanziehungskraft, auf die Vorhand zu steigern. So ist es in der Lage, sich diese zu Nutze zu machen und sich über die Vorhand (hinter die Lotrechte) in die Bewegung zu ziehen, während die Hinterhand (hinter die Lotrechte) schiebt.

 

Vorderlastigkeit und Balance

Das Pferd als Fluchttier muss in der Lage sein, reaktionsschnell einem „Raubtierangriff“ zu entkommen. Dieses Grundbedürfnis hat sich bis heute nicht geändert. Physisch nicht ausbalanciert zu sein, bedeutet für ein Pferd psychischen Stress, da es das Gefühl hat, nicht rechtzeitig entkommen zu können. Gleichgewichtsempfindung und psychisches Wohlbefinden des Pferdes sind hierdurch eng miteinander verbunden. Das Pferd bewegt sich ohne Reiter in seinem natürlichen Gleichgewicht, was bedeutet die Tendenz der Gewichtsverteilung liegt in Richtung Vorhand. Das Pferd ist in der Lage durch den Einsatz des Kopfes und des Halses als Balancierstange, dieses natürliche Ungleichgewicht aufzuheben.

Was passiert mit dem „natürlichen Ungleichgewicht“, sobald das Reiter- und Sattelgewicht hinzu kommt? Das ungewohnte Gewicht im Bereich des Widerrists und der Halsmuskulatur, die unterhalb des Reiters in den langen Rückenmuskel hineinreicht, steigert den Druck auf die Vorhand im unnatürlichen Sinne. Das „natürliche Ungleichgewicht“ wird in ein „unnatürliches Ungleichgewicht“ umgewandelt. Als Folge senken sich die Brustwirbelsäule und der Halsansatz noch tiefer, weil das Pferd seiner natürlichen Konstruktion gemäß versucht auf diese Weise das Gewicht zu kompensieren. Da sich die Brustwirbelsäule tiefer senkt, kommt die Lendenwirbelsäule höher und verspannt, damit das Pferd nicht vornüber fällt. So entwickelt sich ein Kompensationsmuster mit einem hohen Verspannungsgrad, welches der Reiter auflösen sollte, in dem er dem Pferd ein neues Bewegungs-Muster in neuer gesunder Form vermittelt.

 

Entwicklung von Übungen

Schon die alten Meister zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert studierten die Vorderlastigkeit des Pferdes und dessen Balanceverhalten ohne und mit Reitergewicht. Sie erkannten, dass die Wendigkeit eines Pferdes mit der Herstellung des Gleichgewichtes unter dem Reiter Nicole einhergeht. Das Pferd in seinem Gleichgewicht, und damit in dessen Beweglichkeit, zu schulen war zur damaligen Zeit lebensnotwendig für den Kriegseinsatz. Da nur wenige Bücher und Regularien für diese Studien zur Verfügung standen, beobachteten sie vorerst die Bewegungen des freien Pferdes in der Herde. Pferde in freier Bewegung spielen, testen sich und kämpfen miteinander. Zu beobachten ist dabei, wie sich das Pferd im Kampf versammelt und balanciert, um sich aus der ausbalancierten Versammlung heraus gezielt zu bewegen. Es kann so ausschlagen, steigen, drehen, bocken und springen. Anhand dieser natürlichen Bewegungsabläufe, Manöver, Bewegungsorganisation und Anatomie entwickelten die alten Meister die Dressur- und Balanceübungen.

Aus diesen Dressur- und Balanceübungen entwickelten sie über das gezielte Aufrichten der Vorhand und Versammeln des Pferdes am Ende die „Schulen über der Erde“ als Kriegsmanöver.

 

Die Arbeit an der Balance des Pferdes im Renaissance Zeitalter

Antoine de la Baume Pluvinel (1552 – 1620), war der erste der französischen Reitmeister, der einen größeren Einfluss auf die moderne Dressur hatte. Er führte freundliche Trainingsmethoden, Lob, weichere Gebisse und Vorsicht im Einsatz der Hilfen ein. Er glaubte daran, dass das Pferd Gefallen daran finden soll, geritten zu werden. „So bewegt es sich mit Freude, Freiheit und innerem und äußerem Gleichgewicht.“ Hier entstanden unter anderem auch die ersten Gedanken zum Thema „inneres Gleichgewicht“. Pluvinel vertrat die Ansicht, dass alle Reitfiguren nur ein Herausarbeiten der natürlichen Bewegungen des Pferdes seien. Für die Lockerung des Pferdes hat Pluvinel Volten, Seitengange und vor allem das Schulter-Herein, für die gezielte Gleichgewichts- und Versammlungsarbeit die zweifachen Pilaren für die Levade genutzt.

François Robichon de La Guérinière (1688–1751), wie Pluvinel französischer Reitmeister, sah die Ausbildung des Pferdes als eine Vervollkommnung der Natur und wollte damit in einigen Bereichen, wie zum Beispiel dem Galopp, über die natürlichen Bewegungen der Pferde hinausgehen. Er ist bekannt für die Beschreibung des Schulter-Hereins, welches er als das „Alpha und Omega von allen Aufgaben“ betitelte. So gab er vorrangig Aufgaben, die die Losgelassenheit in der Balance des Pferdes verbesserten. Des Weiteren entwickelte er ein fortschrittliches Schulungssystem, um das übergreifende Ziel: ein leichtes, nachgiebiges, ruhiges Pferd, welches angenehm zu reiten ist, zu erlangen. Er hat ebenso die fliegenden Wechsel und den Außengalopp entwickelt.

 

Die Arbeit an der Balance des Pferdes im Industrielles Zeitalter

François Baucher (1796–1873) präsentierte Pferde in den Schulen über der Erde nach nur einigen Monaten Training. Er veröffentlichte diverse Bücher, wobei sein Bekanntestes das „La Methode d’equitation basee sur de nouveaux principes“ war. Es wurde auch die „Zweite Manier“ genannt, da es prägnante Änderungen seiner Originalmethode aufweist. Baucher betrieb diverse Studien über die Anatomie, die Biomechanik des Pferdes und den physischen Einfluss der reiterlichen Hilfen. So entwickelte er seine Schlüssel-Lektion, die „Flexionen“ (Biege- und Abkauübungen). Die Entspannung des Kiefers als Antwort auf leichten Druck des Gebisses oder der Kandare, welche einen loslassenden Effekt auf das Genick hat. Baucher glaubte des Weiteren, dass Balance vor der Bewegung kommen soll. Er arbeitete das Pferd hauptsächlich am Boden und im Stand unter dem Sattel, bis es eine gewisse Balance aufwies. Dann kombinierte er anders als seine Kollegen nicht die treibenden Hilfen des Schenkels mit den begrenzenden Hilfen der Reiterhand, sondern separierte diese beiden Hilfen. Das Resultat war der Einsatz „Hand ohne Bein, Bein ohne Hand“. Nachdem das Pferd diese Verwendung der Hilfen verstanden hatte, begann er damit die Hinterhand zu beugen und die Kruppe, um die Schultern rotieren zu lassen. Das lehrte das Pferd, die Hinterhand gerade zu halten. Das anschließende Rückwarts verschob den Schwerpunkt des Pferdes in Richtung Hinterhand und brachte sie zum vermehrten Beugen. So wurde das Pferd in ein anatomisches Gleichgewicht gebracht, aber auch vom Gebiss gelöst, damit die Reiterhand besser einwirken kann. Ebenso schließt es den Winkel der Hinterhand, um der Impulsion aus einer gebeugten Position zu helfen. Das führte zu einem großen Fortschritt in vielen reiterlichen Theorien. Allerdings fehlte es vielen Schülerpferden von Baucher an Schub-Impulsion im Nutzen dieser Methode. So entwickelte er die Arbeit an der Reaktivität des Pferdes, indem er verlangte, dass es extrem schnell auf den nur leicht angelegten Schenkel ohne Handeinsatz reagieren sollte. Er hat noch viele weitere Techniken entwickelt, die heute abgeleitet genutzt werden.

 

Die Arbeit an der Balance des Pferdes im 20ten Jahrhundert

Hier ist zunächst Alois Podhajsky (Februar 24, 1898 – Mai 23, 1973) anzuführen, Direktor der Spanischen Hofreitschule zu Wien, Olympischer Medaillen Gewinner der Dressur, Ausbilder und Autor. Zu dieser Zeit wurde das Pferd bereits viel mehr vorwärts und im Gelände geritten. Das starke Versammeln wich der Geraderichtung und dem Vorwärts. Es sollte die Gehlust des Pferdes gefördert und dessen natürliche Anlagen in Haltung und Gang ausgeprägt werden. Das Pferd soll in allen seinen Gliedern gekräftigt, biegsam und geschmeidig in den Bändern, Sehnen und Gelenken gemacht werden. Dadurch wird die Geschicklichkeit und Ausdauer des Pferdes erhöht, sein Intellekt und Begriffsvermögen geweckt und zugleich dem Reiter der Maßstab für die Arbeit wie für den methodischen Vorgang in der Dressur gegeben.

Nuno Oliveiras (1925–1989) besondere Gabe bestand darin, die jeweils leicht unterschiedliche Methode für das individuelle Pferd herauszufinden, mit der es mit Erfolg zur Spitze seiner individuellen Fähigkeiten entwickelt werden konnte. Dabei arbeitete er sowohl mit iberischen Pferden als auch mit Vollblut- und Warmblutpferden. Ihm wird die Synthese der bis dahin eher konträr zueinander stehenden Schulen der alten französischen Reitmeister de La Guérinière (18. Jahrhundert) und Baucher (19. Jahrhundert) zugesprochen. Frei vom Schubladendenken, in das manche klassische Reiter verfallen waren, bediente er sich pragmatisch der Mittel aller Schulen, wenn sie Erfolg in der Arbeit mit dem jeweiligen Pferd versprachen.

 

Balance schaffen und erhalten

Das Problem, das sich dem Reiter offenbart sobald das Reitergewicht den Pferderücken belastet, ist also das kompensierende Bewegungsmuster des Pferdes, das einen hohen Verspannungsgrad aufweist. Die Aufgabe lautet entsprechend dem Pferd ein neues Bewegungs-Muster in neuer gesunder Form zu vermitteln. Wie sollte dieses neue Muster aufgebaut werden?

Der Aufbau der Gymnastizierung beginnt häufig je nach Gymnastizierungsprozess bei der Vorhand und arbeitet sich dann zurück zur Hinterhand. Bei vielen Pferden ist die Herstellung eines gewissen Gleichgewichtes notwendig. Dies wird durch das Aufrichten der Thorakalen Schlinge (Schultergürtel) in Zusammenarbeit mit dem „Halsansatz“, um diesen unabhängig von den Schultern einzusetzen, erreicht. Beim Aufrichten des Schultergürtels sollte sich der Widerrist stabilisieren und die Brustwirbelsäule als Verbinder zwischen Vor- und Hinterhand agieren, ohne unter dem Reitergewicht abzusacken. So ist das Pferd sowohl in der Lage, den Reiter zu tragen, der im Übergang vom Halsansatz zum Rückenmuskel platziert ist. Dabei soll das Pferd den Spannungsbogen in der Oberlinie erhalten und frei in der Bewegung bleiben. Das Genick ist dabei der höchste Punkt und durch einen positiven Kontakt zur Hand und dem Zügel wird die Nase vorgeschoben und der Hals wie ein Teleskop nach vorn gezogen.

Das Pferd, welches im Genick zu tief in der Aufrichtung geht, komprimiert den Hals und verspannt die Schultermuskulatur. Das führt zu einem vorgekippten Becken. Das Pferd, welches zu hoch geht, kippt im Widerrist weg und drückt in den Unterhals. Es verliert den Spannungsbogen in der gesamten Oberlinie.

Gelingt es uns, das Pferd beim Reiten so wenig wie möglich aus der Balance zu bringen und es beim Finden seines Gleichgewichtes so aktiv zu unterstützen, kann man spüren, wie es seine Energie in das entspannte Mitarbeiten investiert.

Die Dehnung stellt das ein weiteres Hilfsmittel zur Gesundheitsförderung- und Erhaltung des Reitpferdes dar. Ein ausbalanciertes Pferd hat gelernt, mit Hilfe der Dehnungshaltung in Kombination und als Gegenbewegung zur Aufrichtung des Schultergürtels, seine Oberlinie zu dehnen. Das Pferd ist in der Lage seinen Schwerpunkt in Richtung Hinterhand zu stabilisieren und kann durch entsprechendes Training der Hals- und Rumpfträgermuskulatur den negativen Auswirkungen einer Überlastung der Vorhand in der Dehnung entgegensteuern.

Für eine korrekte Ausführung der Dehnungshaltung mit gymnastizierendem Effekt muss der Winkel zwischen Ganasche, Atlas und Kehle vergrößert werden (Stirn- Nasen-Linie muss vor der Senkrechten sein). So kommt es zu einer positiven Anspannung des Überdornfortsatzbandes, den Zwischendornfortsatzbändern, sowie des ventralen Längsbandes und Dehnung der gesamten muskulären Oberlinie. Die knöchernen Anteile der Wirbelsäule werden entlastet.

In der zu tiefen Dehnung erhält das Pferd starken Druck auf die Vorhand. Die Spannung der Bänder erzeugt ein Heben und Vorkippen des Beckens. Sie führt nicht zu einer Dehnung der Oberhalslinie, sondern eher zu einer Verkürzung der Unterhalsmuskulatur (Arm-Kopfmuskel). Das Pferd, welches zu hoch in der Dehnung geht, spannt den Bauchmuskel nicht genügend an, und kommt so nicht in die ausreichende Entspannung der Oberlinienmuskulatur.

Das Pferd hat durch die Kombination der „getragenen“ Dehnung mit der Aufrichtung gelernt, die Schultern anzuheben und so dem Hinterbein die Möglichkeit gegeben, beweglich unter den Körper zu treten. Erst dann kann der Widerrist nach oben schwingen. Jetzt ist das Pferd bereit, seinen Reiter weitestgehend, ohne negative gesundheitliche Auswirkungen zu tragen. Im Idealzustand, dehnt und richtet sich das Pferd gleichermaßen auf. Es verliert in der Dehnung weder das Gleichgewicht – noch in der Aufrichtung die Losgelassenheit und die Offenheit im Körper. In der Dehnung sind die Trägermuskeln weiterhin aktiv und in der Aufrichtung lassen sie trotz Anspannung der Oberlinie ausreichend los.

Nicole Weinauge


Über die Autorin

Nicole Weinauge vermittel Pferdebesitzern mit ihrem Arbeitskonzept Pro Sanitate Equi, was Pferde brauchen, um gesund zu bleiben. Sie bringe Ihnen bei, die Pferde mit fachlichen Augen zu sehen, um körperliche und mentale Probleme wie Fehlhaltungen und Fehlverhalten zu erkennen und die Ursachen für diese Probleme abzustellen. Pro Sanitate Equi ist ein ganzheitliches umfassendes Konzept, dass sie und ihr Pferd gesund nach vorne bringt.

Mehr Infos unter:

www.NicoleWeinauge.de

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