Mut zum Richtungswechsel – Wege aus der Angst heraus
25. Oktober 2016
Fareedah – Vermittle Sicherheit!
Fareedah ist eine wunderschöne, sehr feine arabische Schimmelstute, wie aus dem Bilderbuch. Gezogen und aufgezogen wurde sie von liebenden Händen unter besten Bedingungen. Fareedahs Züchter machte leider den entscheidenden Fehler, sie vierjährig zum Einreiten an eine fragwürdige Bereiterin abzugeben, die ihr nicht gut bekam. Was dort genau passierte, konnte ihr Besitzer nicht ermitteln. Beim ersten Probereiten nach dem vermeintlichen Einreiten buckelte die Stute jedenfalls so sehr, dass sie ihren geliebten Besitzer, eine schon etwas älteren Herrn, in hohem Bogen absetzte. Fareedah schien völlig durcheinander; er bekam das sehr deutlich zu spüren und nahm sie kurzerhand mit nach Hause. Was er dort sah, gefiel ihm nicht; seine einst so anhängliche Stute ließ sich nicht anfassen, sie stand mit dem Kopf in der Ecke ihrer Box und wollte mit Menschen nichts mehr zu tun haben.
Der Besitzer war schockiert und wollte das verstörte Pferd möglichst schnell mit professioneller Hilfe unterstützen. So fuhr er sie auf ein Arabergestüt seines Vertrauens. Dort lernte sie innerhalb von drei Monaten, sich wieder anfassen zu lassen. Geritten wurde sie im Schritt mit Führer.
Danach lernte ich sie kennen. Ihr Besitzer bat mich um Hilfe, als Fareedah wieder bei ihm zu Hause im Stall war.
Das Aufsitzen glich schon einer Achterbahnfahrt. Fareedahs Angst war immer noch überdeutlich zu spüren, jede Berührung von oben löste bei ihr Panik aus. Sie zog sich zusammen, wollte weichen, wegrennen. Nur mit viel Lob war an ein Vorwärtsreiten zu denken. Selbst Leckerlis zur Belohnung nahm sie am Anfang nicht an. Viele kleine, vorsichtige Schritte und sanfte Versuche waren nötig. Ausschließlich durch positives Zureden und Streicheln fasste sie allmählich Vertrauen. Sobald ich mich jedoch im Sattel zu sehr auf die eine oder andere Seite bewegte und sie mich dabei sah, waren die Panikattacken wieder da. Fareedah wehrte sich. Durch bocken, stehenbleiben oder weglaufen zeigte sie ihre Angst.
Angeborene Sensibilität und Angst verbunden mit schlechten Erfahrungen lassen sich nur über lange Zeit verändern. Wir sollten dabei unsere Ziele so setzen, dass wir uns miteinander wohlfühlen können. Alles Weitere folgt von allein.
Behutsam gingen wir wieder einen Schritt zurück und feierten jeden Erfolg mit viel Zuspruch, um dann erneut einen kleinen Schritt nach vorn zu machen. Mit viel Ruhe und vielen Pausen, in denen sie viel gelobt wurde, fasste sie wieder mehr Mut.
Unsere Zusammentreffen wurde immer besser. Nach einigen Wochen vertraute sie mir so, dass ich mich mit ihr ins Gelände wagte. Dort war sie glücklich, im Vorwärts und in der anderen Umgebung verlor sie gänzlich ihre Bedenken.
So lehrte auch sie mich genaues Zuhören, lehrte mich wahrzunehmen, in welchen Augenblicken sich ein Pferd gut fühlt und wie wichtig es ist, es für gute Zusammenarbeit zu loben.
Fareedahs Attacken verloren sich so nach einigen Monaten vollständig, so dass sie in ein neues Zuhause verkauft werden konnte. Dort beweist sie seither als perfektes, feines Freizeitpferd eine unglaubliche Zuverlässigkeit. Mit Menschen ist sie vorsichtig geblieben, immer unterscheidet sie ganz klar, von wem sie sich anfassen lässt und vom wem nicht. Für ihre vertrauten Menschen jedoch macht sie alles.
Das Raubtier auf dem Rücken
Wir schlossen aus ihren Reaktionen, dass bei der ersten Berittstelle wohl ein Dummy auf ihren Rücken geschnallt wurde, der ihr irgendwie zusetzte. Dadurch entsteht eine „Raubtier-Panik“, die durch den „Feind auf dem Rücken“ ausgelöst wird. Diese instinktive Angst- und Fluchtreaktion ist bei vielen Pferden zu beobachten, bei denen Fehler beim Anreiten gemacht wurden.
Eine gute Ausgangsposition für Fareedah war, dass sie zwar ein schlimmes Erlebnis hatte, jedoch ihre Grundeinstellung zu Menschen im Ursprung positiv war und ihre Kinderstube stimmte. So konnte die schlechte Erfahrung behutsam überlagert werden.
Geritten wurde und wird sie bis heute gebißlos und sehr fein. Hätte ich ihre Grenzen wieder überschritten, hätte die Gefahr bestanden, dass sie nie wieder Vertrauen fasst. Da jede Überforderung vermieden wurde, um ihre feine Seele zu schützen und zu fördern, kann sie heute so sein, wie eine sensible Araberstute leben möchte. Frei und ohne Angst, mit Freude an der Bewegung und an ihren Menschen.
Zwei Schritte zurück, einer vor. Erst wenn wir bereit sind, uns auf unser Gegenüber vorbehaltlos einzustellen, gibt es irgendwann nur noch ein Vorwärts. Den Zeitpunkt bekommen wir dann geschenkt, wenn es soweit ist.
Überlebensschutz und Zerstörung – Angst hat viele Gesichter
Angst ist ein großes Thema bei unserem Fluchttier Pferd. Durch das Fluchtverhalten entstehen die wohl häufigsten Konflikte zwischen Pferd und Reiter. Ein gewisser Mut ist angeboren, wir kennen das von uns Menschen. Die Mutigen, die schon als Kind am liebsten überall auf Entdeckungstour waren, werden auch im Erwachsenenalter sicherlich nicht ängstlich im Haus verharren. Es sei denn, gewaltige Schicksalsschläge, Traumata haben das Leben so verändert, dass die eigene Persönlichkeit blockiert ist. Auch das gibt es beim Pferd wie beim Menschen oder jedem anderen Lebewesen. Doch es gibt immer Wege zurück zu den Wurzeln.
Entscheidungen aus Angst hindern am Vorwärts.
Stabilität contra Angst
Pferde leben im Herdenverbund und fühlen sich nur sicher, wenn ihre Herdenmitglieder in unmittelbarer Nähe sind.
Sie sind ein Teil der Gruppe und in deren festen Strukturen, in den klaren Rangordnungen dürfen sie sich dort entspannen.
Geht es uns als Mensch nicht genauso? Allein gelassen von Freunden und Familie fühlen wir uns verlassen. Schnell steigt die Angst vor der Zukunft in uns auf. Werden wir die Aufgaben allein meistern, die uns das Leben präsentiert? Ein sicheres und positives Umfeld ist entscheidend für unser Wohlbefinden und damit für die Kraft, die wir benötigen, um unsere täglichen Anforderungen zu bewältigen.
Das Pferd wird sehr oft von seinem Herdenverband getrennt, durch uns Menschen. Und bei diesem verunsichernden Einschnitt erwarten wir noch, dass es sich dem Menschen anschließt und ihm blind vertraut. Vom Reitpferd verlangen wir unbedingten Gehorsam.
Können wir Unsicherheit und Angst, die wir dem Pferd zumuten, nicht nachvollziehen? In der Fremde fühlen wir uns ebenfalls unsicher, bei neuen Aufgaben sind wir erleichtert, wenn wir etwas Vertrautes erkennen. Wenn wir einen neuen Arbeitsplatz antreten und treffen dort einen guten Bekannten, fällt die neue Aufgabe gleich bedeutend leichter.
Vertrauen erzeugt Wohlgefühl. Erst wenn wir uns wohlfühlen, können wir unser Leistungspotenzial ganz und gar freisetzen.
Muss man sich Vertrauen nicht erst einmal verdienen?
Je nach Rasse und Charakter fühlt ein Pferd mehr oder weniger fein, benötigt Schutz durch Sicherheit, die wir ihm geben müssen. Genauso wie es für uns Menschen gut wäre.
Bei Unsicherheit bleiben Pferde stehen, laufen rückwärts, sie drehen um, rennen weg, erst am Ende wehren sie sich. Manchen wehren sich nie, lassen unendlich viel zu und werden psychisch krank. Das äußert sich auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel in den sogenannten „Unarten“ wie koppen, weben oder umherlaufen. Pferde werden dadurch günstig gehandelt, verschenkt, ja, geradezu geächtet.
Menschen dieser Liga ziehen sich zurück, trinken Alkohol oder suchen andere Ersatzbefriedigungen, um ihren Geist ruhig zu halten. Die Wehrhaften treten um sich.
Tiere müssen vorsichtig nach ihren Grenzen gefragt werden. Dann können wir uns dorthin begeben, wo die Probleme anfingen, oder noch ein Stück dahinter. Wir schaffen Situationen, in denen sie sich wohlfühlen, und bestärken sie.
Wenn wir beginnen, die Grenzen unserer Tiere aufzuspüren, können wir leicht an unsere eigenen herankommen. Das Pferd zeigt uns, wo unsere Schwächen liegen. Die müssen wir hier zurückstellen. Denn wir müssen zunächst stärker sein, Vertrauen gewinnen. Dabei dürfen wir ihre Grenzen nicht überschreiten, sie nicht überfordern. Das würde einen Rückschritt und Vertrauensverlust nach sich ziehen, den wir erst durch einen Schritt zurück, durch kleinere Anforderungen mit viel Lob wieder ins Positive wenden können.
Jeder Fortschritt verdient ein Lob.
Angst entsteht durch Überforderung. Nur mit kleinen Schritten, die uns gut tun, können wir sie überwinden. Sind die Anforderungen zu hoch, passieren Fehler, die dann wiederum ein Fiasko zur Folge haben können, was uns meilenweit zurückwirft.
Sicherheit
Das Pferd lebt als Fluchttier unter freiem Himmel. Der weite unbegrenzte Raum, der uns als „Höhlenbewohner“ eher verunsichert, gibt dem Pferd Sicherheit, weil es fliehen kann. Sein Schutz ist die Herde. Man kennt sich und kann sich aufeinander verlassen. Da gibt es die starken und schwachen Mitglieder, jede Persönlichkeit besitzt dort ihren festen Platz und übernimmt Aufgaben in dieser stabilen Gemeinschaft.
Die Führungsrolle übernimmt ein (auch wechselndes) Leittier, dem der Rest der Herde bedingungslos folgt. Denn alles andere würde in Chaos münden. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, in Gefahrenmomente würde erst einmal diskutiert, wer die Führung übernimmt und in welche Richtung geflohen wird. Ob sie überhaupt wegrennen oder doch lieber angreifen sollen. Solches Verhalten würde für eine Herde in freier Wildbahn ein schnelles Ende bedeuten.
Bleibt die Herde nicht als Einheit stark, hätten Raubtiere leichtes Spiel. In Momenten der Gefahr oder auch im täglichen Miteinander ist eine schnelle und deutliche Kommunikation überlebenswichtig. Pferde handeln zuverlässig, wenn sie die Sprache verstehen und sich sicher fühlen. Je mehr wir dieses verinnerlichen, desto besser gelingt es uns, das Wesen Pferd zu begreifen.
Ein Pferd tut immer das Richtige, weil es entsprechend seiner natürlichen Anlagen agiert und reagiert.
Gewalt verstärkt Angst!
Wenn sich unser Fluchttier Pferd naturgemäß richtig verhält, darf es nicht noch bestraft werden. Sobald in der Angst noch mehr negative Erlebnisse oder sogar Schmerzen zugefügt werden, verschlimmert sich die Situation. Ein Teufelskreis. Der Mensch muss erkennen, wann ein Pferd aus Angst reagiert und ihm mit Stärke, Sicherheit und Vertrauen einen angenehmeren Weg zeigen!
Aus „Seelenfreunde“ von Katrin Ehrlich
Über die Autorin
Katrin Ehrlich arbeitet und lebt seit Jahrzehnten mit Pferden. Sie lehrten sie die Pferdewelt zu verstehen und mit Ihnen pferdegerecht zu arbeiten. Dabei geht es um Basisfähigkeiten, kleine Schritte, mit denen wir unsere Fähigkeiten zurückerobern, die die Pferde nie verloren haben. Sie Autorin öffnet uns anhand von Begegnungen mit unterschiedlichen Pferdepersönlichkeiten die Augen dafür, wie sich Pferde uns als Lehrer anbieten. Und was sie uns schenken, wenn wir nur zuhören und vorbehaltlos hinschauen, was sie uns auch über uns lehren, wenn wir ihr Vertrauen gewinnen – und ehrlich sind mit Ihnen und mit uns.
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