Waldemar Seunig

26. Februar 2018

Alte Meister | Kristina Conrädel

International anerkannter Ausbilder, gefragter Turnierrichter oder auch Journalist – zur Beschreibung dieses alten Meisters kann man jede dieser Bezeichnungen für ihn auswählen, denn alle treffen zu. Sogar als wandelndes Pferdelexikon mochte ihn so mancher bezeichnen. Ein Oberst, der sich während des 1. Weltkrieges des Reitens annahm und nie wieder davon loskam, ein wahrer Pferdemensch vom Scheitel bis zur Sohle: Waldemar Seunig

Ein Künstler durch und durch

Oberst Waldemar Seunig bildete seine reiterlichen Fähigkeiten, wie so viele Männer seiner Zeit, während seiner Militärlaufbahn aus. Als Hofstallmeister einer Kavallerieschule in Slowenien nahm er bis etwa 1932 regelmäßig und erfolgreich an internationalen Turnieren teil. Der Schwerpunkt seiner Arbeit war jedoch, über sein gesamtes Leben gesehen, vor allem das Unterrichten und verständliche Vermitteln von reiterlichem Wissen. Ein erfolgreicher Reitlehrer, der auch als internationaler Richter auf Turnieren arbeitete. Eine sehr wertvolle Kombination, denn so kannte er alle Seiten und konnte sich in seinen Schüler genauso einfühlen wie in den Richter oder als Richter in den Ausbilder am Rande des Vierecks. Nebenbei verfolgte er vielfältige journalistische Interessen und schrieb Kurzgeschichten und Pferdebücher, die seine umfangreiche humanistische Bildung aufzeigen. In seinen Büchern finden sich zudem viele Zeichnungen, die Seunig alle selber gemalt hat. Schon deshalb lässt sich mit Fug und Recht sagen: Waldemar Seunig war ein wahres Multitalent.

Mit Vertrauen zur Losgelassenheit

Seunig lag die vertrauensvolle Ausbildung von jungen Pferden besonders am Herzen. Das junge und unerfahrene Pferd sollte zunächst zwanglos unter dem Reiter gehen und sein Gleichgewicht mit der Person auf dem Rücken finden. Zwanglos bedeutet für Seunig, dass das Pferd willig vorwärtsgeht und seinen Reiter auf dem Rücken akzeptiert. Das Pferdemaul soll das Gebiss dabei über den gestreckten Hals nach vorwärts suchen. Tut es dies, zeugt es von viel Vertrauen, welches während der weiterführenden Arbeit nicht enttäuscht werden darf. Seunig betont ebenfalls, dass das Pferd sanft an die Reiterschenkel gewöhnt werden muss. Zu Beginn der Arbeit sind diese nur zum Einrahmen da und Stück für Stück werden sie dann als treibende Hilfen in die Arbeit integriert. Wenn das Pferd seinem Reiter auch in diesem Aspekt vertraut, kann es anfangen sich loszulassen. Diese Losgelassenheit quittiert es meist mit einem entspannten Kauen auf dem Gebiss. Viele Reiter denken, dass bei einem losgelassenen Pferd immer alle Muskeln locker sind. Doch Seunig definiert diesen Zustand genauer: Das Pferd soll die Muskeln regelmäßig im Takt der Schritte, Tritte bzw. Sprünge zusammenziehen und wieder loslassen. Losgelassenheit ist demnach der Zustand, in dem das Pferd seine Muskeln regelmäßig an- und entspannt. Auf Grundlage dieser gewöhnenden Arbeit kann das Pferd seinen Takt finden und in natürlicher Selbsthaltung gehen.

Weiter im Takt

Für die weiterführende Ausbildung des Reitpferdes hatte Seunig zunächst drei Grundziele: Zum einen das Reiten von gymnastischen Übungen in der Bahn, um das Pferd geschmeidiger zu bekommen, zum anderen die Erziehung des Pferdes und das Durchkommen der Hilfen, ohne diese mechanisch erzwingen zu müssen. Des Weiteren ist die Gewöhnung des jungen Pferdes an die Arbeit ein ganz wichtiger Punkt für Seunig. Das unerfahrene Pferd sollte nicht nur körperlich an seine neue Aufgabe als Reitpferd gewöhnt werden, sondern auch geistig. Wichtig war dem Ausbilder, dass das Pferd keine Ängste und Spannungen entwickelt und im Idealfall den Hilfen des Reiters stets erwartungsvoll entgegensieht.

Die Bedeutung eines elastisch federnden Rückens während der Arbeit ist für Seunig sehr hoch. Er weiß aufgrund seiner Erfahrung um die Wichtigkeit eines gut arbeitenden Rückens. Zum einen werden so die Pferdbeine entlastet, zum anderen wird deren Verschleiß vorgebeugt. Aber auch für die weiterführende Arbeit des Reitpferdes ist ein lockerer Rücken unverzichtbar, sonst kann zum Beispiel keine reelle Versammlung erarbeitet werden. Ohne eine tätige Rückenpartie lässt sich auch keine gute Anlehnung oder Losgelassenheit herstellen.

Schub nach vorn

Auf der Grundlage der geleisteten Arbeit sollte das Pferd als Nächstes lernen Schub aus der Hinterhand zu entwickeln. Dafür muss sich das Pferd treiben lassen und mit einem vermehrten Unterschwingen der Hinterbeine auf den Schenkel reagieren. Seunig betont an dieser Stelle, dass die Schenkelhilfen immer nur als Impulse einzusetzen sind. Wenn das Pferd die gewünschte Reaktion auf den Schenkel zeigt, wird es belohnt und der Schenkel wieder weggenommen und erst wieder eingesetzt, wenn das Pferd an Elan verliert. Das ist sehr wichtig, damit das Pferd nicht im Laufe der Zeit unempfindlich für die Schenkelhilfen wird. Die Schubkraft kann durch Tempowechsel innerhalb der Gangarten weiter gefördert und entwickelt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass das Pferd seinen Takt und seine natürliche Selbsthaltung immer aufrecht erhält. Ein simples nach vorne Scheuchen ist deswegen immer kontraproduktiv für die weitere Ausbildung, denn das Pferd würde hierbei Balance und Takt verlieren.

Parallel zur Entwicklung der Schubkraft empfiehlt Seunig das Reiten mit unterschiedlichen Zügellängen. Das Pferd sollte in jeder Zügellänge seine Anlehnung, seinen Takt und seine Losgelassenheit bewahren. Das Reiten mit langen Zügeln beziehungsweise das Zügel-aus-der-Hand-Kauen-lassen dient demnach als eine Kontrolle der bis dahin geleisteten Arbeit. Damit wäre eine erneute Etappe der Ausbildung erreicht und das Pferd kann an die nächsten Aufgaben herangeführt werden.

Biegung und Untertreten

Die Biegung ist der nächste Schritt in der sehr logisch aufgebauten Pferdeausbildung Seunigs. Es beginnt mit der von ihm so getauften: Biegung ersten Grades. Er meinte damit die indirekte Biegung in Ecken und auf großen Zirkeln. Zunächst sollte das Pferd auf flachen einfachen Schlangenlinien geritten werden, damit es eine Idee von der Biegearbeit bekommt. Dann erfolgt die Biegung auch in den Ecken und auf dem Zirkel. Der Schenkel soll dabei laut Seunig anregend wirken. Ziel ist es, eine reelle und sichere Längsbiegung zu erarbeiten. In dieser Phase bringt Seunig den Pferden auch die Vorhandwendung bei. Sie ist für ihn eine gute Übung, um das Reitpferd geschmeidiger zu bekommen.

Neben der Längsbiegung steht an diesem Ausbildungspunkt bei Seunig das Untertreten auf dem Programm. Das vermehrte Untertreten wird durch Muskelschwingungen des Pferdes ausgelöst. Der Schenkel des Reiters ist dabei das zur Ausführung anregende Mittel. Durch präzise eingesetzte Schenkelimpulse und einen mitschwingenden Sitz veranlasst der Reiter sein Pferd dazu mit den Hinterbeinen weiter unter seinen Körper zu fußen. Dabei sollte niemals eine unnatürliche Beizäumung erzwungen werden. Seunig achtet auch hier besonders auf die natürliche Selbsthaltung. Die Kopfhaltung sollte generell immer dem Grad der Versammlung entsprechen. Das heißt, dass die Aufrichtung durch vermehrtes Untertreten und höhere Versammlung von alleine höher wird und nicht frühzeitig von einem unreifen Pferd durch Hinziehen gefordert werden darf.

Praxisübung zum Kauen

Das tätige und kauende Maul ist für Seunig ein sehr wichtiger Indikator während seiner Ausbildung. Das Kauen ist sozusagen eine Begleiterscheinung der Losgelassenheit. Das Pferd sollte jederzeit zum Abkauen bereit sein oder sich durch kleines Fingerspiel dazu motivieren lassen. Seunig rät zur folgenden Übung, um die Kautätigkeit zu fördern: eine Vorhandwendung in Bewegung. Hierbei wird das Pferd auf der linken (oder rechten) Hand auf einer Volte geritten. Das Pferd braucht keine Längsbiegung, der rechte Schenkel liegt leicht verwahrend und der innere linke Schenkel motiviert das Pferd dazu sich mit den Hinterbeinen um die Vorderbeine zu bewegen. Dann hebt der Reiter seinen rechten Arm aus der Schulter heraus nach oben-vorne. Sobald das Pferd darauf mit Abkauen reagiert, nimmt der Reiter den rechten verwahrenden Schenkel stärker ran und beendet dadurch die Übung, indem das Pferd wieder geradeaus läuft. Danach empfiehlt Seunig eine Schrittpause am langen Zügel. Diese Übung wird am besten im Trab geritten.

Kandarenreife – eine Auszeichnung für Pferd und Reiter

Die Kandare sollte immer erst benutzt werden, wenn Pferd und Reiter kandarenreif sind. Laut Seunig ist aber viel zu häufig genau das Gegenteil der Fall. Der Reiter versucht mithilfe der Kandare den Ausbildungsweg zu verkürzen. Das kann allerdings nie funktionieren, es sei denn, das Pferd ist durch Zufall perfekt konstruiert und sehr leichtrittig. Dies jedoch ist fast nie der Fall. Seunig betont, dass ein Pferd erst nach ungefähr eineinhalb Jahren kontinuierlicher Ausbildung reif für die Kandare ist. Vorausgesetzt die Ausbildung fing erst gegen Ende des vierten Lebensjahres an. Wenn ein Pferd früher angeritten wurde, ist es nach eineinhalb Jahren noch nicht reif genug für die schärfere Zäumung. Ein Pferd sollte als Voraussetzung gerade gerichtet und durchlässig sein. Die Anlehnung muss absolut sicher sein und das Pferd sollte über eine natürliche Aufrichtung infolge der versammelnden Arbeit verfügen. Der Reiter sollte für das Reiten auf Kandare über einen ausbalancierten und Zügel unabhängigen Sitz verfügen. Des Weiteren sollte er alle seine Hilfen präzise und effizient einsetzen können.

Hohe Schule und Lipizzaner

Die Hohe Schule ist für Seunig reine Kunst. Sie ist die Spitze einer systematischen jahrelangen Ausbildung und die Vollendung der Ästhetik. Es geht dabei nicht um Effekthascherei oder verschleierte Tricks. Die Hohe Schule zeigt, was für Möglichkeiten im Pferd schlummern und wie es ein guter Reiter mit viel Geduld schafft die Pferde so weit auszubilden. Seunig betont, dass sie ein Vorbild für die Gebrauchsreiterei sein sollte und diese zur Verfeinerung motivieren kann. Und nicht zu vergessen: Die Hohe Schule schult nicht nur das Pferd, sondern auch den Reiter. So hat die Wiener Hofreitschule über die Jahre immer wieder hervorragende Reiter und Ausbilder herausgebracht. Seunig erwähnt in diesem Zusammenhang Podhajsky als Beispiel. Die Hohe Schule hat für Seunig die Funktion eines Vorbilds für alle Reiter.

Beziehungen zu alten Meistern der Reitkunst

Seunig war über Jahre Schüler von Gottlieb Pollak, einem Oberbereiter und Reitmeister der Wiener Hofreitschule. Die Eindrücke der Wiener Schule haben ihn stark geprägt. Daneben wurde er durch den heute weniger bekannten General von Josipovich und Gustav Rau beeinflusst und inspiriert. Gerade die Gedankengänge von Gustav Rau, hinsichtlich des Werts der Hohen Schule, zitiert er wörtlich in seinem Buch. Neben diesen Reitern betont Seunig auch mehrfach die Errungenschaften der Reitkunst durch den Revolutionär Guérinière, der die Auffassung des Reitens und des Lebewesens Pferd zu seiner Zeit grundlegend veränderte. Den alten Meister Gustav Steinbrecht stellt Seunig als Vorbild zum Thema Harmonie zwischen Pferd und Reiter heraus. Diese ziehe sich wie ein roter Faden durch Steinbrechts Werk, betont Seunig. Anhand dieser vielfältigen Einflüsse lässt sich erkennen, wie offen Seunig gegenüber der guten Reitkunst war. Er scheute nicht den Blick über den Tellerrand, sondern erweiterte ständig seinen Horizont, indem er die Errungenschaften anderer Meister mit in seine Arbeit integrierte. Allerdings warnt Seunig auch vor Scharlatanen, die sich Ausbilder nennen, aber das Pferd nur als leblose Plattform für ihre Selbstdarstellung ansehen. Bei diesen sogenannten Meistern gibt es keine seelische Verbindung zum Lebewesen Pferd. Solche Reiter zerstören für Seunig die Kunst des feinen Dressurreitens. Er betont auch, dass diese nur durch die vielen kritiklosen Bewunderer bestehen können.

Das Werk von Waldemar Seunig ist genauso systematisch aufgebaut wie seine Pferdeausbildung. Er formulierte seine Ansichten stets verständlich und leicht nachzuvollziehen. An den komplizierten Stellen helfen seine hervorragenden Zeichnungen dabei, die Probleme bildlich darzustellen. Es ist deutlich zu spüren, dass es sich bei ihm um einen wirklichen Pferdemenschen handelt. Seunig ist kein Theoretiker gewesen. Er hat durch seine Arbeit als Trainer, Richter und Ausbilder einen umfassenden Schatz an praktischer Erfahrung erworben. Eben dieses Refugium an Wissen und Erfahrung macht ihn zu einem der bekanntesten Ausbilder der 20. Jahrhunderts. Dank seiner journalistischen Leistung ist das Werk Seunigs auch international bekannt und hoch geschätzt.

Kristina Conrädel


Biografie

Waldemar Seunig wurde am 8. August 1887 in Treffen geboren. Wie so viele Reiter seiner Zeit kam er über das Militär mit Pferden und dem Reiten in Kontakt. Während seiner Militärlaufbahn, die in die Zeit des Ersten Weltkrieges fällt, eignete er sich umfangreiche reiterliche Fähigkeiten an. Er stand in jugoslawischen Diensten und war bis 1932 als Hofstallmeister und Chefreitlehrer der Kavallerieschule tätig. In dieser Zeit startete er auch auf internationalen Turnieren. Zum Beispiel nahm er 1924 an den Olympischen Spielen in Paris teil und errang einen sehr achtbaren 24. Rang. Im Jahre 1932 wurde Seunig auf eigenen Wunsch als Oberst pensioniert. Er verließ damit die militärische Laufbahn und wurde 1933 Inhaber eines Reitstalles in Laibach/Slowenien (heute Ljubljana). Hier war er als Ausbilder und Reitlehrer tätig. Nebenbei war der Pferdekenner auch als Richter auf internationalen Turnieren unterwegs. 1941 gab er seinen Stall ab und arbeitete fortan bis ins hohe Alter als Reitlehrer. Parallel zu seiner reiterlichen Laufbahn widmete sich Seunig immer wieder seinen schriftstellerischen Tätigkeiten. Besonders seit 1941 verfasste er neben Kurzgeschichten auch Pferdebücher, die er mit eigenen Zeichnungen aufwertete. Sein bekanntestes Werk „Von der Koppel bis zur Kapriole“ erschien erstmals im Jahre 1943 und wurde vielfach nachgedruckt und neu aufgelegt. Waldemar Seunig starb am Heiligabend, dem 24.12.1976 im Alter von 89 Jahren.


 

Zitate:

 

„Theoretisch gewusst heißt noch lange nicht reiterlich gekonnt.“

„Nach wie vor gilt bei den Schrittpausen der bewährte Grundsatz: Zügel weg!“

„Selbst eine richtig gegebene Hilfe wird, wenn sie ihre Wirkung überdauert, das Pferd abstumpfen und dann das Gegenteil von dem erreichen, was sie beabsichtigte.“

„…, daß es durchaus nicht darauf ankommt, das Pferd dauernd kommen zu lassen, sondern nur darauf, jederzeit auf die leiseste Aufforderung eines gefühlvollen, fast unsichtbaren Fingerspiels, das Kauen hervorzurufen …“

„So aufgefaßt ist die Hohe Schule klassische Kunst, klassisch darum, weil Inhalt und Form, sich ergänzend, die Harmonie des Gesamtbildes von Reiter und Pferd zu etwas Vollendetem machen.“

 


Von der Koppel bis zur Kapriole: Die Ausbildung des Reitpferdes.

von Waldemar Seunig (Autor), Bertold Schirg (Vorwort)

Gebundene Ausgabe: 390 Seiten

 

Verlag: Olms, Georg; Auflage: Reprint 2019 (1. Januar 2019)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3487083485

ISBN-13: 978-3487083483

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