Meilensteine österreichischer Reitkunst

26. Februar 2018

Alte Meister | Werner Poscharnigg | 02.04.2018

Die Forderung nach dem denkenden Reiter

Die Reitkunst gehört zu den prägenden Elementen europäischer Kultur. Theorie und Praxis, Denken und Handeln sind hier untrennbar miteinander verbunden. Der Reiter, der mit dem Pferd arbeitet um es zu schulen, muss jeden seiner Schritte hinterfragen, Zusammenhänge herstellen, und praktisch erproben, was ihm als Theorie hilfreich scheint. Eine kritische Haltung sich selbst und der eigenen Ausführung gegenüber ist dafür unabdingbar. Das Reiten als Charakter-Prüfstein und Charakter-Schule findet immer wieder bei alten Meistern Erwähnung. Über die bekannten Autoren hinaus gibt es zahlreiche Werke, die heute ein wenig in Vergessenheit geraten sind. Zu Unrecht. Deshalb haben wir hier einige barocke Juwelen für Sie zusammen getragen.

Giovanni Battista Galiberto 2000 Jahre nachdem der griechische Reiteroberst Xenophon „Über die Reitkunst“ mit Einfühlungs­vermögen und Pferdefreundlichkeit geschrieben hatte, trat ein würdiger Nachfolger auf den Plan: 1650 publizierte der neapolitanische Reiteroberst Giovanni Battista Galiberto in Wien sein Buch „Il Cavallo da Ma­neggio“, eine Reitlehre, welche an denkende Reiter appelliert, ihre Pferde mit Güte und ohne Gewalt­methoden und -werkzeuge auszubilden. Das Werk des kampfbewährten Haudegens und Abenteurers aus dem 30jährigen Krieg entstand 1635 in bayrischer Festungshaft und war gedacht als Leitfaden für Reiter in Freizeit und Gefecht. In der Spanischen Hofreitschule Wien ist auf einer Steintafel zu lesen: „Diese kaiserliche Reitschule wurde zum Unterricht und zur Übung der adeligen Jugend sowie zur Aus­bildung der Pferde für die Reitkunst und den Krieg errichtet.“ Österreichische Reit­kunst verstand sich nie allein als l’art pour l’art, sondern stets auch als militärisch anwendbare Fähig­keit. Sogar im Allerheiligsten der Reitkunst, dem Saal der Winterreitschule. So gesehen ist es kein Zu­fall, dass das erste Reitschulbuch Österreichs aus der Feder eines Reiterobersts stammt.

Galiberto verlangt, dem Pferd „gute und sanfte Worte“ zu geben. Solche Pferdefreundlichkeit zieht sich fast durch sein gesamtes Werk. Immer wieder er­mahnt er zu sanfter Behandlung des Pferdes und rät von Gewalt ab. Das schrieb ein Krieger, der wusste, dass im kritischen Moment sein Leben von einem verlässlichen, ihm zugetanen Pferd abhän­gen konnte. Wiederholt mahnt Galiberto, das Pferd selten zu strafen, und wenn doch, dann mit Nachdruck und Ernst. „Und wenn es seine Schulen gut macht, soll man ihm schön tun, damit es desto mehr Lust und Liebe kriegt, die Schulen zu lernen, damit es nicht wild und verdrossen, sondern folgsam werde.“

 

Dem Misshandler alle Strafen

Denn es muss „ein vollkommener Reiter wissen, mit dem Pferd richtig umzugehen und erkennen, woher der Fehler und die Ursache kommt, wenn es etwas Unartiges oder Übles tut.“ Wer sein Pferd misshan­delt, ist „wert, dass man ihm alle die Strafen gebe, die er dem Pferd gibt. Denn er lässt sich vom Zorn meistern und verbittern und weiß weder sich selbst, noch das Pferd zu regieren.“

Die Kandare möge die mildeste und einfachste sein, welche es gibt. Damit soll das Pferd möglichst ein Leben lang geritten werden. Galiberto warnt vor dem Irrglauben, ein Gebiss könne natürliche Män­gel und Schwächen des Pferdes beheben. Entdeckt ein „guter und ver­nünftiger Reiter“, dass er trotz Strenge und Bemühung gesteckte Ziele nicht erreicht, so soll er weise einlenken und nichts verlan­gen, was das Pferd nicht geben kann, denn durch Überforderung kann es gefährliche Untugenden an­nehmen.

 

Schulterherein schon 1635

Galiberto formuliert neben anderen Seitengängen auch das Schulterherein. Er nennt es „Canton oder Winckel“, eine Schule, die er für sehr nützlich hält, um das Pferd zu kräftigen und leichter zuzureiten: „Die Ursache aber, warum ein Pferd solchermaßen bald geschult und zugeritten wird, ist, dass, wenn man es gehörig im ‚Winckel‘ reitet, es sich lockert und gehorsam versammelt, Stärke fasst, den Hals wölbt und herbei krümmt, den Kopf ruhig trägt, das Kreuz richtig stellt, die Wendung ansieht, ein gutes Maul kriegt , die Schenkel und Füße kreuzt.“ Um das Pferd dazu zu bringen, bedient sich Gali­berto eines Mauerwinkels. Die Schule kann, so Galiber­to, in allen Grundgangarten geritten werden.

In Neapel und Wien wurde Schulterherein rund hundert Jahre vor Guérinière geritten, der nach allgemeiner Meinung als Erfinder dieser Schule gilt. Das aber stimmt nicht. Guérinière ist nur der Erfinder des Begriffs „épaule en dedans“, d. h. „Schulter herein“, nicht der Schule selbst. Ob die Wahrheit sich in den Köpfen der Menschen durchsetzen wird, muss sich erst weisen. Galiberto überragt mit seiner Auffassung humaner Pferdebehandlung den Durchschnitt seiner Epo­che und übte, da es sein Buch immerhin auf vier Auflagen brachte, einigen Einfluss auf die Reit­kunst einer mächtigen Nation aus. Außergewöhnlich auch, dass Galiberto bereits etwa 1635 das beschrieb, was Guérinière erst 100 Jahre später „Schulter herein“ nennen sollte.

Johann Christoph v. Regenthal Wesentlich zum Ruhm österreichischer Reitkultur trug eine Persönlichkeit bei: Johann Christoph von Regenthal. Seine internationale Berühmtheit erlangte er durch seine Schüler: Kaiser Karl VI. trainierte zwei- bis dreimal pro Woche bei ihm und ritt daher bei allen Funk­tionen ta­dellos majestätisch. Kai­ser Franz I. Stephan des Heiligen Römischen Reichs war sein hervorragendster Reitschüler. Außer­dem wirkte er als Lehrer prominenter Reitmeister wie Friedrich Wilhelm Baron Reis von Eisenberg sowie des Freiherrn von Sind, die seinen Ruhm in England, Italien, Deutschland, Frankreich verbrei­teten.

Regenthal diktierte vor seinem Tod 1730 sein „Compendium“, das in Vergessenheit geriet und erst 1996 als „Urdirektiven“ publiziert wurde. Regenthals „Compendium“ über Menschen- und Pferdeausbildung sowie Pferdezucht ist eine teils frag­mentarische Darstellung in genialer Kürze ohne Umständlichkeiten. Regenthal, der Empirist: Nur die Erfahrung zählt. Speku­lation ver­achtet er. Und damit gehört er trotz des barocken Gestus zum Zeitalter der Aufklärung. Wie uns zeitge­nössische Quellen vermitteln, war Regenthal eine überragende Größe, ein Monument zu Lebzeiten, eine Institution. Wie vor ihm Galiberto, fühlte er sich nicht als Theoretiker, sondern als Praktiker des Pferdewesens. Wenn der Begriff Klassik als Epoche kultureller Höchstleistung definiert wird, so verdient die öster­reichische Reitkunst in Regenthals Zeitalter dieses Prädikat absolut. Regenthals Ära ist der Höhe­punkt der österreichischen Reitkunst in einem soziokulturellen Umfeld höchster imperialer Macht- und Prachtent­faltung. Viele der Pferde, welche Johann Georg von Hamilton in seinen überragenden Gemälden dar­stellte, wurden von Regenthal ausgebildet. Hier trafen sich in ihrem Wirken zwei Künstler auf höchs­tem Niveau.

In perfekter Einheit & völliger Freiheit Warum Regenthals Reitart so beeindruckte, beschreibt Sind: Er reite, „ohne dass man die geringste Be­wegung seitens des Reiters bemerkt. Das Pferd muss unter ihm in perfekter Einheit und völliger Frei­heit arbeiten, als ob es seine Schulen von selbst machen würde. Das ist das Meisterstück der Kunst. Ich habe es in dieser Art ausgeführt gesehen durch den Baron von Regenthal.“ Regenthal selbst berichtet: „Es finden sich unter meinen dressierten Pferden viele, die sich fast nach des Reiters Gedanken führen und regieren lassen. Man sieht keine Zaumzügel angezogen oder ange­spannt, sondern völlig flattern, als wären sie von nichts gehalten, und dennoch stehen die Pferde in ihrer schönsten Haltung mit dem Kopf perfekt senkrecht. Wenn nun der Körper oder die Hand sich nur im geringsten gegen diese oder jene Seite wendet, wird diese Wendung sofort ausgeführt. Ich habe noch Pferde, die sich mit dem Körper führen und regieren lassen. Ich nehme die Kandarenzü­gel rich­tig abgelängt in die linke Hand, halte diese fest an meinen Körper und lasse sie auch keines Messers Rücken breit von ihrem Platz abweichen. In solcher Haltung galoppiere ich mein Pferd in die Weite, in die Enge, redoppiere es weit und eng, bringe es in kleinste Zirkel einer Pferdelänge. Ich laufe eine völlig gestreckte Karriere und pariere auf der Stelle, dieses alles mit dem Körper allein, ohne dass die Hand einen Strohhalm breit von ihrem Zentrum abgewichen wäre. All dies besteht in keiner Spekulation, sondern in der wahren, richtigen Ausführung, wie ich sie oft vor meinem Publi­kum präsentierte.“

 

Eckpunkte von Regenthals Arbeit:

– Er praktizierte bereits selbstverständlich die Schule Schulter herein, die er NICHT von Guéri­nière über­nahm.

– Er bezeichnet sich als Erfinder der Unterlegtrense.

– Er war vehementer Gegner von Gewalt gegen Pferde, lehnte scharfe Gebisse und Schlaufzü­gel völlig ab.

– Er vertrat elegantes Reiten des im Sattel völlig still sitzenden Kavaliers, der scheinbar mühe­los und ohne Einwirkung mit seinem Pferd kentaurenhaft agiert.

– Er sah in solchem Reiten mit ungespannten, flatternden Zügeln bei bester Versammlung den Inbe­griff von Können. Guérinière nannte das „descente de main“. Wie Regenthal durch seine Schüler auf die französische Reiterei wirkte, wäre noch zu erforschen.

– Er betrachtete sich als Herold einer neuen aufgeklärten Epoche der Reitkunst und des huma­nen Um­gangs mit Pferden.

– Er forderte den denkenden Reiter, der mit gesundem Menschenverstand falsche Traditionen so­wie Irr­tümer erkennt und entsprechend handelt.

Adam von Weyrother war Regenthals Nachfolger als kaiserlicher Oberbereiter und ritt 1735 zur Eröffnung des Wiener Hofreitschulsaals vor illustrem Publikum. Sein Werk „Le Parfait Écuyer“ erschien in Brüssel. Einige inspirierende Zitate daraus: „Bevor man es unternimmt, ein Pferd zu dres­sieren, muss man bedenken, dass man es mit einem intelligen­ten Tier zu tun hat, empfänglich für jeden Reiz. Man muss seinen Charakter studieren.“ „Wenn das Tier gehorcht, muss man es im­mer liebkosen; aber es ist nicht das gleiche mit der Strafe, die man nur mit Diskretion und bei An­lass verwenden soll; wenn das Pferd Fehler machte, ist das fast immer der Fehler des Reiters und sel­ten der seine; ein selbstgefälliger Mensch wird diesbezüglich immer ein schlechter Richter sein und das Pferd strafen, wenn er selbst die Rüge verdient hätte.“

Reitmeister als Menschenformer Ein Reitmeister braucht ausgeprägte Charaktereigenschaften: „Ein Reitmeister muss fest sein, wenn auch sanft, intelligent ohne Selbsteingenommenheit, kühn ohne Leichtsinn, lebhaft ohne Hektik; doch Kaltblütigkeit und Geduld sind seine hervorragendsten Qualitäten. Der Begriff Reitmeister, im ganzen Umfang seiner Bedeutung, bezeichnet einen Mann, der fähig ist, Pferde auszubilden und Menschen zu formen; man formt Menschen, indem man sie in ihrem Können schult, sich fest zu Pferd zu halten und ohne Verkrampfung, wobei man ihre Fehler korrigiert; indem man ihre natürli­che Anmut entwickelt und sie lehrt, sich selbst zu kennen und ihr Pferd zu kennen.“

Solche Philosophie beweist die Höhe einer Reitkultur, die sich als Bildungsinstrument für die gesam­te Persönlichkeit begriff, als charakterbildend mit psychologischer Finesse. Das Pferd wird durch den Ver­mittler Reitmeister zur formenden Kraft für das menschliche Ich, zum Schlüssel der Selbster­kenntnis.

Denkend reiten Dies sind drei Beispiele aus 500 Jahren Tradition des denkenden Reiters. Wenn wir für unser Alltagsreiten mit Verstand die alten Meister lesen, können unsere Pferde davon profitieren und wir mit noch mehr Glanz reiten. Wenn wir zu Pferd sitzen, sollten wir immer wieder einfließen lassen, was dieser und jener Meister sagte. Das gibt unserem Reiten geistigen Hintergrund. Unser Hirn, unser Herz, unser Körper, unser Pferd leben auf.

Werner POSCHARNIGG


„Meilensteine österreichischer Reitkunst“

Werner Poscharnigg

ISBN 9781481930093

„Meilensteine österreichischer Reitkunst“ bietet konzentriert Reiterwissen, das sich durch Jahrhunderte bewährte.

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