Eine Frage der Balance
21. Juli 2017
Ausbildung | Angelika Graf
In der Reiterei, wie im ganzen Leben, ist alles eine grundsätzliche Frage von Balance, Ausgeglichenheit und Gelassenheit. Anders ausgedrückt, einem Gleichmut, der nichts mit Oberflächlichkeit oder Schläfrigkeit zu tun hat, sondern in der Ruhe eine wache Aufmerksamkeit und lebendige Bereitschaft verkörpert.
Balance, Kraft und Gelassenheit sind fundamentale Eigenschaften, die sich gegenseitig positiv bestärken. Und die nicht nur unser Leben auf dem Pferd bereichern. Alles, was in seinem Gleichgewicht ist, birgt in sich eine innere Ruhe und Gelassenheit. Damit behaupte ich, dass wahre Gelassenheit einem Zustand inneren Gleichgewichts entspringt, der wiederum eine würdevolle, selbstbewusste Haltung und Ausgeglichenheit, aber auch Selbstbeherrschung, beinhaltet.
Eine Haltung der Gelassenheit erlaubt es uns, jederzeit der Ruhe mit Bedachtheit zu handeln, wachsam, aktiv, aber auch entspannt. Diese grundlegenden Eigenschaften treffen sowohl für den Menschen, als auch für das Pferd und natürlich für die Zusammenarbeit beider zu.
Das Pferd ist von Natur aus ein Tier, das bestrebt ist, immer in seinem Gleichgewicht zu sein. Es entspricht dem instinktiven Verhalten eines Fluchttieres, welches ständig bereit sein muss, in Bruchteilen einer Sekunde in die verschiedensten Richtungen fliehen zu können. Dieser Urinstinkt ist bei unseren domestizierten Pferden bis heute erhalten. Manche unserer Pferde leben diesen Instinkt deutlicher aus als andere. Es ist eine Frage des Temperaments, des Blutanteiles und der Zucht. Grundsätzlich schlummert dieser Urinstinkt in jedem unserer Pferde, aus ihm entwächst das grundlegende Bedürfnis eines Fluchttieres, immer in seinem physischen Gleichgewicht zu sein. Gelingt dies ihnen nicht, so können Pferde in eine Nervosität verfallen, die instinktiv aus ihren Urängsten entsteht. Bleibt dieser Zustand über längere Zeit, so verlieren sie dadurch auch ihre psychische Balance. Pferde lassen dies sehr deutlich erkennen: Je nach Charakter reagieren sie entweder mit Flucht oder ziehen sie sich in sich zurück, manchmal auch konfrontieren sie uns mit aggressivem Verhalten.
Beginnen wir ein junges Pferd zu reiten, so müssen wir es nicht nur körperlich, sondern auch mental darauf vorbereiten, dass es mit dem Reiter ein neues gemeinsames Gleichgewicht finden muss. Weiß der erfahrende Reiter um dieses instinktive Bedürfnis, so wird er dem jungen Pferd über seinen gut ausbalancierten Sitz helfen, dieses neue gemeinsame Gleichgewicht zu finden.
Eine der Hauptaufgaben der kompletten Ausbildung ist es, kontinuierlich die gemeinsame Balance zu verbessern. Durch ein Gleichmaß in Takt und Rhythmus, einer Losgelassenheit, kann sich der erforderliche Schwung entwickeln und daraus im Laufe der Zeit ein gemeinsamer Tanz beginnen und wachsen. Schonend ausgebildete Pferde sind oft weit über Ihre Zwanziger noch im Einsatz. Sie sind durch das jahrelange gesunderhaltende Training, einer Gymnastizierung im klassischen Sinne, wesentlich fundierter und stabiler ausbalanciert. Sie zeigen eine Balance, die ein junges Pferd unter zehn Jahren kaum erreichen kann. So gibt es Pferde, die sich durch ihren guten Körperbau mit Reiter leichter ausbalancieren. Andere dagegen benötigen mehr Zeit, ja sogar Jahre, ein harmonisches, gemeinsames Gleichgewicht mit dem Reiter zu finden.
Ein Reiter, der das Glück hat, mit Pferden weit über zehn Jahre gemeinsam zu wachsen, wird im Laufe der Zeit feststellen können, wie sich das Balance-Gefüge zwischen Pferd und Reiter stets verändert. Das Pferd wird durch die Gymnastizierung und ein sinnvoll aufgebautes Training kräftiger und in sich stabiler. Durch diese Entwicklung der Kraft kann es sich gezielter und in einer anderen Qualität in den Hanken setzen. So werden Lektionen, wie zum Beispiel Piaffe oder Pirouetten balancierter, fundierter, ausdrucksstärker und korrekter. Das Pferd zeigt sich in all seinen Bewegungen anmutiger und versierter. Ein gezieltes Training ermöglicht dem Pferd ein besseres Verständnis für seine Aufgaben und ebenso wachsen in seiner Psyche Gelassenheit und Selbstbewusstsein.
Im gemeinsamen Gleichgewicht des Paares geht es nicht nur um die Balance des Pferdes. Der Reiter lernt gleichermaßen sein optimales Gleichgewicht auf dem Pferd zu finden, halten und geschickt einzusetzen. Die physische Balance ist dabei genauso wichtig wie die Psychische. Ausgeglichen und zentriert in der Mitte finden Pferd und Reiter in einen harmonischen Einklang.
Hintergründe zum Thema finden Sie im ‚Working Equitation Basics‘ Angelika Graf
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„Du triffst nicht auf ein Pferd zufällig. Es ist das Schicksal, das dich zu ihm führt.“