„Vergleichende Würdigung der Reitsysteme“…
2. Juni 2017
Alte Meister | Thyl Engelhardt | 23.06.2017
…ein zufälliges Schlüsselwerk zur deutschen Reittradition?
Bei der Suche nach Informationen über mögliche Einflüsse Bauchers auf Plinzner, und damit auf das Hauptwerk der deutschen Reiterei ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts, „Das Gymnasium des Pferdes“, stieß ich zufällig auf ein kurzes Buch von Lauffer (damals Oberleutnant im 2. Württembergischen Dragonerregiment), „Vergleichende Würdigung der Reitsysteme von Baucher, Fillis, Plinzner und der Instruktion zum Reitunterricht für die Kavallerie vom 31. August 1882“, erschienen 1901, das mir vom Titel her interessant erschien. Was ich nach Ausleihen in der Zweigstelle Weihenstephan der Technischen Universität München vorfand, war jedoch aus zwei anderen Gründen so interessant, dass ich den Lesern der Hofreitschule etwas davon präsentieren möchte. Der erste Grund ist, dass sich das Büchlein von kaum 50 Seiten (basierend auf einem Vortrag des Autors vor Offizierskameraden) auch als ein historischer Abriss der Geschichte der deutschen Reiterei erwies – und zwar aus einer nun 110 Jahre alten Perspektive.
Jeder an Reiterei Interessierte kennt sicher die Heeresdienstvorschrift 12, erschienen 1912. Einige werden auch noch von ihrem Vorläufer, der im Titel erwähnten Reitinstruktion von 1882 gehört haben. Aber davor? Lauffer bestätigt in seiner historischen Betrachtung den heute allgemein akzeptierten Umbruch, den die Reiterei durch die napoleonischen Kriege erfahren hat. Er schreibt allerdings: „Die Französische Revolution hatte die alten Reitschulen vernichtet; aber wenn es auch zu Anfang schien, als ob der Reitkunst dadurch eine tiefe Wunde geschlagen sei, so hat dies in Wahrheit mehr genutzt als geschadet. Die alte Schule, die doch ursprünglich den Zweck verfolgte, den Rittern brauchbare Kriegsrosse auszubilden, hatte ihren praktischen Zweck verloren. Das allgemeine Interesse hat sich … der damals in Mode gekommenen Anglomanie zugeneigt.“ Und damit kommt er dazu, wie dieser Umbruch sich in der Reiterei der deutschen Kavallerie niedergeschlagen hat. Im Jahre 1825 erschien nämlich die „Reitinstruktion“ in vier umfangreichen Bänden, geschrieben von Friedrich von Sohr (1775-1845). Lauffer beschreibt, wieso es zu dieser Reit-Anweisung kam: „Als Remonten wurden ausschließlich Steppenpferde geliefert. Sohr suchte nun diesen Pferden mit dem starren Rücken ihren Überschuss an Kraft zu nehmen, indem er sie fast senkrecht aufrichten ließ. Er glaubte, umso eher hiermit auf dem richtigen Wege zu sein, als ja auch die alte Schule hohe Aufrichtung verlangte. Die Nase musste in einem Winkel von 45° stehen …“ Was genau Lauffer unter Steppenpferden verstand, ist nicht klar (Seunig erwähnt in „Von der Koppel bis zur Kapriole“ die Instruktion und verweist auf Ukraine, Bessarabien und die Moldau), aber es war für mich äußerst überraschend, wie weit diese Anweisung von der – zeitlich ja damals noch viel näheren und lebendigeren – klassischen Schulreiterei nach z. B. Guérinière, aber auch vom heutigen System entfernt war. Als Endziel kaum Beizäumung, und was mit den Pferderücken genau passierte?!
Lauffer umreißt dann die weitere Entwicklung dieser Vorschrift, die schließlich zur Instruktion von 1882 führte. Aber auch hier finden sich die Grundprinzipien des Sohrschen Werks immer noch. Lauffer beschreibt das Ausbildungsziel folgendermaßen: 1. Als beste Stellung gilt die, in welcher der Hals vom Widerrist an möglichst senkrecht steht und sich nach dem Genick zu in sanfter Biegung vorwärts neigt. Der Kopf steht in einem Winkel von 45° zur Erde und ist gut rückwärts angenommen … Als regelmäßig kann auch noch die Stellung gerechnet werden, wo der Hals weniger aufgesetzt ist und die Nase sich mehr der Senkrechten nähert. 2. Mangelhaft sind Stellungen, wo der Kopf sich der Waagerechten nähert oder mehr oder weniger hinter die Senkrechte zurückgeht. 3. Fehlerhaft sind Stellungen, wo der Kopf die Waagerechte erreicht oder die Senkrechte so überschreitet, dass das Pferd hinter den Zügel kommt.
Lauffer zufolge zeigten sich jedoch schon kurz nach 1825 massive Probleme mit dem offiziellen Reitsystem nach Sohr (das vermutlich als verbindlicher Befehl zumindest für die einfachen Kavalleristen angesehen werden muss). Er schreibt: „Solange nur Steppenpferde zur Ausbildung kamen, war sein System angebracht, sobald aber die Kavallerie edlere Pferde mit weniger starrem Rücken bekam, litt dieses System Schiffbruch … Es ist deshalb erklärlich, dass, als in den 30er-Jahren ein Stallmeister auftrat, der die Aufrichtung verwarf und ausgesprochene Tiefzäumung verlangte, viele Reiterherzen ihm entgegenschlugen … Dieser Mann war der Franzose Baucher.“
Dann kommt Lauffer zu einem Vergleich der Vorschrift von 1882 mit den Systemen von Baucher, Fillis und schließlich Plinzner, wobei er zwar Steinbrecht zweimal erwähnt, das Buch aber stets als von Plinzner verfasst ansieht. Er bleibt dabei streng vor dem Hintergrund eines militärischen Einsatzes der jeweiligen Reitsysteme, und seine gesamte Schrift durchzieht die klare Erkenntnis, dass sowohl die Reiter bei der Kavallerie als auch die Pferde alles andere als hervorragend sind. So schreibt er: „An Stelle des Berufsreiters ist der Mann aus dem Volke getreten. Nach zweijähriger Ausbildung muss dieser eine Remonte zureiten können. Die Erlangung des hierzu notwendigen Gefühls wird ihm dadurch noch besonders erschwert, dass seine Gliedmaßen von der harten körperlichen Arbeit vor seinem Dienstantritt mehr oder weniger steif geworden sind“ (ein Problem, das heute Büroarbeiter teils nur zu gut kennen), „Was nutzt die bestangesetzte Attacke, wenn sie schlecht geritten wird?“, und später (über Plinzner): „Für einen guten Reiter ist es sicher keine Kunst, ein rohes Pferd, welches nicht gerade besondere Schwierigkeiten hat, in sechs Wochen so weit zu bringen, dass er es anstandslos zum Exerzieren brauchen kann, zumal wenn er mit beiden Händen reiten darf. Aber dieses Pferd ist darum noch lange kein dressiertes Soldatenpferd. Man setze einmal auf dasselbe einen weniger geübten Reiter, gebe ihm die Lanze in die Hand, und man wird sehen, dass die Dressur des Pferdes in keiner Weise genügt“, und schließlich „Es kommt eben bei uns viel weniger darauf an, mit dem Besten das Beste, als mit dem Durchschnitt Gutes und mit dem Minderwertigen noch Brauchbares zu erreichen.“
Bei seiner Analyse handelt er Baucher und Fillis kürzer ab, verdammt sie aber keineswegs so grundsätzlich, wie dies andere zeitgenössische Autoren getan haben. Im Gegenteil, er hebt auch Stärken der Systeme hervor, und zeigt dabei Selbstständigkeit im Denken und viel eigene Erfahrung im Reiten. Über Fillis sagt er gar: „Vor seinem Reiten und seinem System muss man die größte Achtung haben. Wohl mit Recht kann man ihn den besten Reiter der Gegenwart nennen.“ Eine detaillierte Wiedergabe der Analysen würde natürlich den Rahmen dieses Artikels sprengen, zumal der geneigte Leser die Reitsysteme selbst studieren kann, es sei jedoch auf einige Aspekte eingegangen, die herausstechen. So führt laut Lauffer eine unterschiedliche Ansicht zum Gleichgewicht dazu dass in der Reitinstruktion die natürliche Haltung des Pferdes verwendet wird, bei Fillis jedoch erst durch die Aufrichtung des Halses, das Pferd ins Gleichgewicht kommt. Wobei die Reitinstruktion von einer gleichmäßigen Gewichtsverteilung auf Vor- und Hinterhand ausgeht, Fillis hingegen von einer mehr belasteten Vorhand. Lauffer sieht (wie heute wohl allgemein anerkannt) starke Ähnlichkeiten zwischen Baucher und Fillis, meint jedoch, dass Fillis durch das Vermeiden einer übertriebenen Arbeit auf der Stelle die wackeligen Hälse nach Baucher vermeiden kann. Ferner ist er der Ansicht, dass die Fillis’sche Handarbeit, durch die das Pferd ins Gleichgewicht gebracht wird, die Kinnlade lose und das Pferd durchlässig und das Genick weich gemacht, der Hals am Widerrist aber gefestigt wird, ein nützliches Verfahren ist, und bedauert, dass dies nicht in der Reitinstruktion enthalten ist. Lobend erwähnt Lauffer auch die Arbeit an der Hand nach Fillis, die durch Aufrichtung Gleichgewicht erreichen, das Pferd in den Kinnladen locker und im Genick weich machen und den Hals am Widerrist festigen soll.
Dennoch verwirft er vor dem Hintergrund der Gegebenheiten und Notwendigkeiten beim Militär schlussendlich diese Systeme. Sowohl Baucher als auch Fillis verwenden für ihre Reiterei nur die besten Pferde, und beide sind Schulreiter, und damit auch letztlich Bahnreiter, die ihre Kunst nicht im Gelände ausüben. Über Baucher schreibt er z. B.: „Durch stundenlanges Abbiegen macht er die Hälse so wacklig, dass er sich sogar seines besten Dressurgrundsatzes begibt, nämlich durch den Hebel des Kopfes und des Halses auf die Hinterhand zu wirken. Durch die … Arbeit … unterdrückt er systematisch die natürlichen Kräfte des Pferdes … Man merkt eben diesem System deutlich an, dass der Begründer desselben lediglich Bahnreiter war.“ Zu Fillis merkt er an: „… Fillis hingegen will ein ideal gehendes Schulpferd ausbilden, das nebenher auch Campagnepferd ist.“
Erheblich mehr Raum als Fillis und Baucher gibt Lauffer der Einschätzung des Plinzner‘schen Reitsystems. Er bewertet dieses deutlich positiver als Baucher und Fillis und hält es insbesondere für tauglicher im Kavallerieeinsatz. Breiten Raum gibt er dem wohl von Plinzner eingeführten, damals also noch unbekannteren Konzept der „unbedingten Beizäumung“. Nach Lauffers Interpretation ist diese erreicht, wenn die Beizäumung rückhaltlos und zweifelsfrei, ist, d. h., das Pferd jeden Widerstand gegen die anfassende Hand aufgegeben hat, leicht wird und kaut. Dieser Ansatz findet sich bis heute in der deutschen Reiterei.
Interessant ist auch Lauffers Einschätzung der Position der Nasenlinie. Er lobt Plinzner dafür, das Pferd auch einmal hinter die Nasenlinie zu stellen; etwas, was in der reinen, klassischen Lehre verpönt ist. Er schreibt: „Die meisten unserer Pferde haben erst in dem Moment den Widerstand gegen die Hand aufgegeben, wo die Nase etwas hinter der Senkrechten sich befindet. Dass ein Pferd in der höchsten Versammlung die Nase fast mit Naturnotwendigkeit hinter der Senkrechten tragen muss, beweist Fillis.“ Ob sich hier schon das bis heute in Deutschland so dominante Ziehen des Pferds hinter die Senkrechte findet? Andererseits kritisiert Lauffer Plinzner: „Der enge Hals, zu dem Plinzner durch das fortgesetzte Betonen der Nachgiebigkeit kommt, wirkt außerdem nicht gerade günstig auf die Schulterfreiheit ein.“ Und er betont, dass die Nachgiebigkeit eben gerade auch bei geweitetem Halse zu erhalten ist. Lauffer kritisiert auch, dass Plinzner das Rückwärtsrichten nicht zum Biegen der Hanken verwendet, und Abbiegen im Gang, Schenkelweichen und Arbeit auf der Stelle verwirft. Für richtig und gerade bei der Militärreiterei wichtig hält Lauffer hingegen Plinzners Ausbildung in einer dritten Periode (nach der Grundausbildung), in welcher die Richtung auf die Hanken zur Befestigung der Gleichgewichtshaltung erfolgt. Die Hinterschenkel tragen und federn dann gleichzeitig. Für mich überraschend war, dass Plinzner anscheinend beim Reiten auf Kandare eine Grundphase, bei der die Zügel 3:1 geführt werden und die Trense vorherrscht, und eine fortgeschrittene Phase mit geteilten Zügeln und vorherrschender Kandare unterscheidet, also im Gegensatz zum heute verbreiteten Usus, bei dem fast jedermann mit geteilten Zügeln reitet und nur eine kleine Gruppe von Traditionalisten 3:1.
Zusammenfassend glaubt Lauffer, dass das Plinzner‘sche System den Verhältnissen beim Militär am besten Rechnung trägt und sich problemlos in das bestehende System integrieren lässt. Er regt an, die Reitvorschrift zu überarbeiten und Plinzners Konzepte als Weiterentwicklung der Militärreiterei zumindest teilweise zu übernehmen.
Und damit kommen wir zum zweiten Grund, aus dem dieses Buch beachtenswert ist. Lauffer hat sich damit nämlich offensichtlich viel Renommee verschafft, denn er gehörte etwa 10 Jahre später zu den Autoren der Heeresdienstvorschrift 12!
Wer also wissen will, warum heute noch auf Turnieren nach den Prinzipien von Plinzner/Steinbrecht, ein bisschen vielleicht auch nach Sohr, und jedenfalls ziemlich militärisch und nicht besonders künstlerisch geritten wird, und somit eben nicht etwa nach Baucher oder Fillis (der dafür bei der russischen Kavallerie reüssierte), der findet vermutlich in dieser kurzen Schrift einige Antworten.
Thyl Engelhardt (Erschienen in Heft 1/2014)
François Baucher (1796-1873) ist berühmt dafür geworden, die Reiterwelt auf den Kopf gestellt zu haben, indem er ein Dressursystem entwickelte und ständig neu durchdachte, das sich von vielem, was davor war, radikal abwandte. Er wirkte auf andere Muskelgruppen ein und ersetzte das Zusammenspiel der Hilfen durch einzelne Einwirkungen. Er war ein Sucher und Experimentator, der sein Hauptwerk (Méthode d’équitation basée sur de nouveaux principes, zuerst 1842) in 14 Auflagen (die letzte posthum) herausbrachte, in denen er bis zur 5. Auflage Änderungen vornahm. Der radikalste Sprung dann geschah in der 12. Auflage, sodass man heute von einer ersten und zweiten Manier Bauchers spricht. Während die erste Manier keine Bedeutung mehr hat, gibt es weiterhin viele Anhänger der zweiten Manier.
James Fillis (1834-1913) war ein in England geborener französischer Reitmeister. Bekannt geworden sind seine Fotos vom Rückwärtsgalopp und Galopp auf drei Beinen. Er scheint jedoch auch der Erfinder des heute üblichen Steigbügels zu sein. In der englischen Wikipedia wird er als Schüler Bauchers bezeichnet, in der französischen jedoch als Schüler von François Caron und Victor Franconi. Er legte besonderen Wert auf die Herstellung des Gleichgewichts beim Pferd. 1898-1910 war er Instruktor bei der russischen Kavallerie.
Paul Plinzner (1855-1920) ist heute am bekanntesten dafür, aus den Aufzeichnungen seines Lehrers Gustav Steinbrecht das Lehrbuch „Gymnasium des Pferdes“ zusammengestellt zu haben, auf das Lauffers Buch Bezug nimmt. Er hat allerdings auch mehrere eigene Bücher veröffentlicht, in denen er zu Steinbrecht anscheinend recht konträre Methoden befürwortet, die sehr der heutigen Rollkur ähneln. Ob und wie viel dieser Methoden in das Buch Steinbrechts eingeflossen sind, wird wohl heute nicht mehr zu klären sein. Er war als Ausbilder für die Pferde von Kaiser Wilhelm II tätig.
Friedrich von Sohr (1775-1845) war ein preußischer Offizier und „Kriegsheld“, der nach einer schweren Verletzung in den Endkämpfen der napoleonischen Kriege 1815 im Jahre 1816 zusammen mit anderen Offizieren zur Errichtung eines Militär-Reitinstituts in Berlin (dem Vorläufer des gleichnamigen Instituts in Hannover) abkommandiert wurde. Dort erarbeitete er auch die Reit-Instruktion, die jedoch erst nach Streichung der Begründungen für die Regeln und Anweisungen in immer noch vier Bänden 1825-1826 veröffentlicht wurde.
Über den hier besprochenen Autor Lauffer ist wenig bekannt. Außer der vorgestellten Schrift und der H. Dv. 12 hat er noch zwei weitere Bücher verfasst: „Die Ausbildung des Reiters“ (1928) und „Was bringt die Reitvorschrift vom 29. Juni 1912 Neues?“ (1912, zusammen mit Hans von Heydebreck).“
Über den Autor:
Dr. Thyl Engelhardt
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