Feldenkrais für Reiter – Gesundheitsvorsorge fürs Pferd!

18. Oktober 2016

Gesundheit | Julia Sandmann | 18.10.2016

In der klassischen Reitkunst ist unser Ziel, das Pferd durch korrekte Gymnastizierung möglichst lange gesund und reitbar zu erhalten. Über eine gute Ausbildung hinaus, erhält das Pferd im besten Falle regelmäßig jegliche Art von Behandlung und Therapie, eine passende Ausrüstung, Hufbearbeitung, etc., um dem oben genannten Ziel möglichst nahe zu kommen – aber was tun wir Reiter für unseren Körper, mit dem wir unser Pferd regelmäßig konfrontieren?

Wir Reiter tragen eine große Verantwortung, denn wir lassen unseren menschlichen Körper von einem anderen Lebewesen tragen und wirken darauf ein. Das, was der Reiterkörper an Verspannungen, Schiefen, Stimmungen, etc. mitbringt, wird auf das Pferd übertragen – von einem Nervensystem auf das andere. Hinzu kommen Bewegungsmuster, die jeder Mensch im Laufe der Zeit ausgeprägt hat. Diese sind uns meist jedoch nicht bewusst, so dass wir auch hier als Reiter bestimmte Haltungen und Bewegungen immer wieder auf das Pferd übertragen, ohne es zu merken. Es mangelt an Bewusstheit, awareness. Geschieht das jahrelang, übernimmt das Pferd diese Eindrücke, die von unserem Körper ausgehen. Besonders deutlich sichtbar wird das beim Sattel, der vielleicht regelmäßig an einer Seite mehr aufgepolstert werden muss, als an der anderen, es zeigen sich muskuläre Asymmetrien, oder der Osteopath löst beim Pferd jedes Mal aufs Neue dieselbe Blockade, etc.

Machen wir uns bewusst: Sitz ist immer, unsere primäre Hilfe (Branderup, p. 21), die nicht weggelassen werden kann! Wer sich ein losgelassenes Pferd wünscht, der muss erst einmal selbst losgelassen sein. So bin ich als Reiter immer in der Pflicht, an meinem Sitz zu arbeiten. Feldenkrais ist dabei zielführend.

Wie aber erreiche ich Losgelassenheit in meinem Körper? Zahlreiche Muskeln unterliegen nicht einmal unserem willentlichen Einfluss, z. B. die tiefe Rumpfmuskulatur (vgl. von Dietze p. 40). Diese aktiv zu entspannen, fällt entsprechend schwer, bzw. erscheint ganz und gar unmöglich. In einer Feldenkraislektion, die im Liegen, Sitzen, Stehen oder auf dem Pferd ausgeführt werden kann, geschieht nun Folgendes: Zunächst scanne ich meinen Körper und entdecke Verspannungen, aber auch losgelassene Körperteile. Der Feldenkrais-Practitioner gibt verbale Anweisungen, wie nun bestimmte Bewegungen auszuführen sind. Diese sind klein, leicht, fließend, jederzeit anhalt- und umkehrbar, ungewohnt aber nicht anstrengend. Letzteres ist von besonderer Wichtigkeit, denn sobald ich mich anstrenge, verspannen sich meine Muskeln erneut. Hier hilft die Vorstellung, nur das Skelett zu bewegen. Auf Grund unserer Sozialisierung sind wir es gewohnt, dass wir uns anstrengen müssen, wenn wir etwas erreichen wollen. Deshalb ist Feldenkrais für viele erst einmal eine gänzlich neue Erfahrung.

Auf dem Pferdekörper ist Anstrengung völlig fehl am Platz – wie soll ein Pferd sich frei bewegen, wenn der Reiter mit den Schenkeln klemmt, fest im Becken ist, weil er die Gesäßmuskeln anspannt, oder gar mit dem Becken schiebt (vgl. Steinbrecht p. 22)? Das Pferd reagiert auf jede noch so kleine Bewegung auf seinem Rücken. Es wird anfangs versuchen, zu interpretieren, was diese oder jene Information, die vom Reiter kommt, bedeuten möge. Im Laufe der Zeit wird es lernen, nicht darauf zu reagieren, es „stumpft ab“, wie man so treffend formuliert. Seunig führt dazu ein anschauliches Beispiel an:

„Ich habe Lipizzaner der Hofreitschule geritten, die so feinfühlig waren, dass die durch ein Seitwärtsneigen des Reiterkopfes veranlasste Gleichgewichtsstörung genügte, sie aus dem Schritt in den Galopp der betreffenden Seite eingehen zu lassen.“ (Seunig, p.57)

 

Ein guter Reiter ist aber nicht der, der am meisten einwirkt, sondern der, der am wenigsten stört.

Feldenkrais lehrt uns, differenzierte Bewegungen auszuführen und verbessert darüber hinaus unsere Wahrnehmung von Bewegung und bewegt werden. Stensbeck wünscht sich vom Reiter eine „tätige Losgelassenheit“ (zit. nach Seunig, p. 58), in einem seiner Vorträge redet Herr Branderup vom „richtigen Nichtstun“. Fühlen lernen lässt sich weder in „normalen“ Reitstunden, noch durch ein gutes Lehrbuch. Darüber hinaus sollte der Reiter aber auch verstehen, was er unter sich oder von sich selbst wahrnimmt. Dazu wirft man am Besten einen Blick in die Anatomie.

 

Das menschliche Becken als größte knöcherne Struktur des menschlichen Körpers hat mit den kufenförmigen Gesäßknochen dauerhaften Kontakt zum Pferderücken, es sei denn, man reitet ausschließlich im Entlastungssitz.
Um jederzeit auf Gleichgewichtsveränderungen, ausgelöst durch die Pferdebewegung, reagieren zu können, sollte sich das Becken idealerweise in der neutralen Position befinden. Aus dieser heraus kann es sich maximal in die ihm zu Verfügung stehenden Bewegungsrichtungen bewegen, d. h. nach vor und zurück, rechts und links und oben und unten. Sitzt man losgelassen, bewegt sich das Becken, ausgelöst durch die Bewegung des Pferdes, bereits ganz von allein in diese Richtungen, und zwar in Kombination: fußt, z. B. im Schritt, das linke Hinterbein ab, senkt sich der linke Gesäßknochen, das Becken bewegt sich nach links-unten-vorn, während die rechte Beckenseite sich nach rechts-oben-hinten bewegt. So entsteht die Dreidimensionalität der Pferdebewegung, die nahezu identisch ist mit dem menschlichen aufrechten Gang. Bei den meisten Reitern sieht man nur die Vor-zurück-Bewegung, die Bewusstheit für die vier anderen Bewegungsrichtungen ist häufig verloren gegangen im Versuch, das Pferd möglichst kraftvoll vorwärts zu reiten.

Der Feldenkrais-Practitioner leitet in einem solchen Fall dazu an, die entsprechenden fehlenden Beckenbewegungen auszuführen und anschließend in das Sich-bewegen-lassen hinein zu spüren. Der Reiter erweitert, metaphorisch ausgedrückt, sein Bewegungsvokabular. Er erhält Bewegungsalternativen, lernt, sich differenzierter zu bewegen und ist dergestalt in der Lage, sich dem Pferd präziser mitzuteilen.

Um zu verstehen, wie Feldenkrais funktioniert, muss man einen Blick ins menschliche Gehirn nehmen. Auf dem Cortex, der Hirnrinde, befindet sich der sensomotorische Bereich, der wiederum in zwei Bereiche gegliedert werden kann, dem sensorischen Bereich, in dem Sinneseindrücke verarbeitet werden, und dem motorischen Bereich, dessen Zuständigkeitsbereich die Bewegung ist. In Letzterem kann mittels bildgebender Verfahren dem Gehirn bei der Arbeit zugesehen werden: führt man mit einem oder mehreren Körperteilen eine bestimmte Bewegung aus, so leuchten die Areale im Cortex auf, die für die entsprechenden Körperteile zuständig sind. So können auf dem Cortex bestimmte Areale bestimmten Körperteilen zugeordnet werden. Dadurch entsteht die sogenannte somatotope Karte, der menschliche Körper wird, gemäß seiner Nutzung, auf der Hirnrinde sichtbar. Diese leicht verzerrte Darstellung unseres Körpers nennt man Homunkulus. Glaubte man früher, dieser sei in seiner Form unveränderlich, weiß man heute, dass durch den abwechslungsreichen Gebrauch des Körpers der Homunkulus verändert werden kann. Diejenigen Körperteile, die wir oft bewegen, z. B. bei Rechtshändern die rechte Hand, stellen sich größer dar als die, die wir selten bis gar nicht bewegen, z. B. Ohr und Nase.

Wenn wir nun in Feldenkraislektionen ungewohnte Bewegungen ausführen, erhält unser Gehirn über das Nervensystem neue Impulse, es bilden sich neuronale Verknüpfungen, die vorher nicht existent waren. Wer Feldenkrais praktiziert, macht nicht nur seinen Körper beweglicher, sondern auch sein Gehirn! Auf diese Weise erhalten wir Bewegungs- aber auch Handlungsalternativen.  Eine Bewegung kann auf mindestens drei unterschiedliche Arten ausgeführt werden. Für den Reiter bedeutet das, dass er Alternativen erhält, seine Hilfen zu geben, sprich, sich seinem Pferd mitzuteilen. Wenn es auf die eine Art nicht funktioniert, ist er nunmehr in der Lage, es anders zu versuchen. Er erhält Bewusstheit über eigene Bewegungsmuster und kann diese jetzt verlassen und durch mehr und andere Bewegungen bereichern. „Nur eine Hilfe, die hilft, ist auch eine Hilfe!“ sagt Bent Branderup in seinen Vorträgen. Kommt die Hilfe nicht an, hat der Reiter sie nicht funktional vermitteln können. Das durch Feldenkrais erweiterte Bewegungsspektrum ermöglicht ihm nun, seine Hilfen differenziert zu geben, so dass das Pferd ihn versteht. Hier kann mein Gespräch mit dem Pferd immer leiser werden, bis die Hilfen unsichtbar werden, hier entfaltet sich die wahre Kunst!

Viele herkömmliche Sitzschulungen an der Longe auf dem Zirkel können den Reitersitz nicht wirklich verbessern, da die Zentrifugalkraft dabei konstant auf den Reiter einwirkt und das Nervensystem ständig damit beschäftigt ist, dies zu kompensieren. Ferner müsste der Reiter sich außerdem auf dem Zirkel dauerhaft im Drehsitz befinden, der bereits ein Thema für sich darstellt. Zudem werden meist die sogenannten Sitzfehler dort korrigiert, wo sie sichtbar werden, aber nicht da, wo sie entstehen. Wackelt z. B. ein Reiter mit dem Kopf vor und zurück – besonders ausgeprägt zeigt sich dieses Kopfwackeln im Trab – so wird es ihm nicht helfen, die Anweisung zu erhalten, er möge seinen Kopf still halten, denn meist ist ihm ja gar nicht bewusst, was er da tut oder wie er diese unerwünschte Bewegung abstellen soll.

Das Kopfwackeln ist eine sog. parasitäre Bewegung, die immer dann entsteht, wenn der Bewegungsfluss an einer Stelle aufgehalten wird. Die Ursache findet sich im Hüftgelenk, Becken oder entlang der Wirbelsäule, hier gibt es Verspannungen oder Blockaden, an denen die Bewegung gestoppt wird – der Reiter ist nicht durchlässig. Die Bewegungsenergie sucht sich ein Ventil, und so wird sie sichtbar in unruhigen Schenkeln oder Händen oder in einem wackelnden Kopf wie oben beschrieben. Feldenkrais löst diese Verspannungen, so dass die Bewegungsenergie wieder ungehindert fließen kann, parasitäre Bewegungen verschwinden.

Heißt das nun im Umkehrschluss, dass wir lieber nicht reiten sollen, um unserem Pferd nicht zu schaden? Die klare Antwort ist „Nein!“, aber auf das „Wie?“ kommt es an! Wo Schiefen sind, da hilft Länge, und Länge kann nur entstehen, wenn verspannte Muskeln loslassen dürfen (v. Dietze, p. 153).

„Das Unmögliche wird möglich, das Mögliche wird leicht und das Leichte wird ästhetisch.“  (M. Feldenkrais)

Mit Feldenkrais reiten heißt:
Seine Bewegungsqualität zu verbessern, Bewegung des Pferdes wahrzunehmen und zu analysieren, entsprechend meine Hilfengebung flexibel anzupassen, Bewegung optimal zu koordinieren, eigene Bewegungsmuster zu erkennen und zu überwinden, den Bewegungsfluss ungehindert durchzulassen und so dafür Sorge zu tragen, dass die natürlichen Gänge des Pferdes erhalten bleiben – dann wird Reiten leicht und ästhetisch.

„Somit schließe ich nun den ersten Abschnitt dieser Schrift, in dem ich mich bemüht habe, die naturgemäßen Mittel zu besprechen, die dem Reiter […] zu Gebote stehen und in einem durch richtiges Gefühl und Verständnis geleiteten Gebrauch seiner Gliedmaßen und seines Körpergewichtes bestehen, der wiederum nur aus einem naturgemäßen, weichen und anschmiegsamen Sitz hervor gehen kann.“
(Steinbrecht p. 51)

Julia Sandmann
Feldenkrais-und-Pferde-Practitioner

 

 

Die Methode und ihr Erfinder
Moshé Feldenkrais (1904 – 1984) war studierter Ingenieur und Physiker und begeisterter Träger des schwarzen Gürtels im Judo. Er „erfand“ seine Methode eher zufällig, als ihm eine alte Knieverletzung schmerzhafte Probleme bereitete. Er experimentierte mit kleinen leichten Bewegungen bis seine Mobilität zurückkehrte und die Schmerzen verschwanden. Daraus entwickelte er seine Methode, die einmal als ATM = Awareness through movement (Bewusstheit durch Bewegung) oder als FI = Functional Integration = Funktionale Integration angewendet werden kann. Die ATM ist eine Gruppenstunde, bei der die Schüler, meist auf dem Boden liegend, verbal angeleitete Bewegungen ausführen. Die FI ist eine Einzelbehandlung, bei der der Feldenkraislehrer manuell Bewegungen anleitet, so dass der Schüler somatisch lernt, seinen Körper wieder funktional zu gebrauchen. Verspannungen werden aufgelöst und Schmerzen verschwinden.
Im Laufe seines Lebens bildete Feldenkrais zahlreiche Lehrer in den USA und Europa aus, unter denen die bekannteste in der Pferdewelt wohl Linda Tellington Jones sein dürfte. Ferner finden sich Feldenkraiselemente bei Ausbildern wie Sally Swift, Eckart Meyners und Peggy Cummings. Der deutsche  Feldenkraisverband hilft bei der Suche nach qualifizierten Lehrern vor Ort.

 

Warum kleine Bewegungen?
Dies lässt sich am besten an Hand des aus der Physik stammenden Weber-Fechner-Gesetzes erläutern, welches sinngemäß besagt, dass man, um einen Unterschied in der sensorischen Wahrnehmung zu bemerken, der Reiz um 2 – 3% ansteigen muss. Wenn man das z. B. auf die Wahrnehmung von Gewichtsunterschieden bezieht, muss eine Masse von 50 g um 1 g schwerer werden, damit der Gewichtsunterschied bemerkt werden kann. Je schwerer die Masse wird, je größer muss die Differenz werden. Bei einem Gewicht von 5000 g muss die Masse also um 100 g schwerer sein.
Übertragen auf das Reiten bedeutet das im Klartext, dass ein Pferd durch übermäßige Krafteinwirkung seitens des Reiters abstumpft, da ja die Kraftaufwendung jedes Mal um 2 – 3% anwachsen muss, damit das Pferd eine Differenz in der Hilfengebung überhaupt wahrnehmen kann. Dies generiert eine Endlosspirale des Kraftaufwands, die damit endet, dass das Pferd lernt, Hilfen zu ignorieren – dergestalt kommt jegliche Kommunikation zwischen Reiter und Pferd zum erliegen.
Minimaler bis überhaupt kein Kraftaufwand erfordert, um eine Differenzierung in der Wahrnehmung hervorzurufen, entsprechend nur eine minimale Steigerung. Dem gemäß erhalte ich mir ein sensibles Pferd, welches gelernt hat, meinen Hilfen zu folgen.

 

Literatur:

Branderup, Bent: Akademische Reitkunst, Cadmos 2013

ders.: Reiten auf Kandare, Camos 2015

ders.: Die Logik hinter den Biegungen, Wuwei-Verlag 2016

Dietze von, Susanne: Balance in der Bewegung, FN-Verlag, 2.te Auflage, 1994

Feldenkrais, Moshé: Bewusstheit durch Bewegung – Der aufrechte Gang, Tel Aviv 1967, erste deutschsprachige Auflage Suhrkamp 1995Hüther, Gerald: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht 2001

Seunig, Waldemar: Von der Koppel zur Kapriole, 1.te Auflage Berlin 1943, Neuauflage Olms Presse 2015

Steinbrecht, Gustav: Das Gymnasium des Pferdes, 1.te Auflage 1884, Warendorf FN Verlag 2014

www. dasgehirn.info

Bildquellenverzeichnis:

Penquitt, Claus: Die Freizeitreiterakademie, Kosmos 2013, p. 84

Fotos: Julia Sandmann

www. dasgehirn.info

www.wikipedia.org

 

Über den Autor

Julia Sandmann

Die praktizierende Lehrerin für Femdsprachen lebt mit ihrem Mann, zwei Söhnen und ihren Pferden im Münsteland.

Durch eine Wirbelsäulenverkrümmung hatte sie immer wieder Probleme und Schmerzen beim Reiten. Die Feldenkraismethode schaffte Abhilfe und so entschloss Julia Sandmann sich für die Feldenkrais-und-Pferde-Practitioner Ausbildung bei Sigrun Kühn. Dieses Wissen gibt sie in Kursen und Seminaren an Reiter weiter.

Mehr Infos auf www.glueck-s-bringer.de

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