Das höfliche Pferd

6. März 2017

Pferdeverhalten | Dr. Tuuli Tietze | 13.03.2017

Wenn Pferde für ihren Reiter ein Lied singen würden, wäre es vermutlich „Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit …“ von Silbermond. Denn Sicherheit ist für das Fluchttier Pferd ein lebenswichtiger Aspekt. Nicht nur beim Verladen und bei der Bodenarbeit punktet der Mensch im Umgang mit dem Pferd, wenn er seinem vierbeinigen Partner Sicherheit vermitteln kann. Auch unter dem Sattel wünscht sich das Pferd das Gefühl sich anvertrauen zu können …

Zwei Körper – ein Wille. Wer wünscht sich das nicht im Sport mit dem Pferd? Die Realität jedoch sieht oft anders aus: Das Pferd will eine Möhre? Statt seinen Reiter freundlich zu fragen, wird dieser auch schon mal geschubst oder gar gezwickt. An Stillstehen beim Aufsteigen ist nicht zu denken und unter dem Sattel spult es gern sein eigenes Programm ab. Oder umgekehrt: Das Pferd ist nervös, weil es gefallen möchte, die Lektion aber noch nicht verstanden hat. Vielleicht ist der Reiter abgelenkt, gedanklich von seinem Job gestresst fällt es ihm schwer, abzuschalten und sich mental auf sein Pferd einzustellen. In den meisten Fällen fehlt es vor allem an einer Zutat: Leadership! Erst wenn liebevoller Umgang und klare Führung zusammentreffen, kann das entstehen, wovon wir alle träumen: Eins zu sein mit unserem Pferd!

 

Pferde suchen Anlehnung

Deshalb ist das A und O für den Reiter: die eigene (Führungs-)Persönlichkeit.

Als Flucht- und Herdentier fühlt sich das Pferd nur sicher, wenn es sich einem vertrauenswürdigen Anführer anschließen kann. Andernfalls übernimmt es selbst die Führung – und das ist nicht immer im Sinne „seines“ Menschen. Der Umgang und das Training mit dem Pferd bringen deshalb stets auch die Arbeit an sich selbst mit sich. Denn als Meister der Körpersprache nimmt das Pferd kleinste Veränderungen im menschlichen Ausdruck, der Mimik und Gestik wahr. So liest es unsere Gedanken und Gefühle – und spiegelt sie uns, indem es uns folgt oder eben nicht.

In der Natur ist eine klare Rangfolge für das Pferd überlebensentscheidend. Allerdings liegt es ebenso in seiner Natur, diese beim leisesten Zweifel infrage zu stellen und zu testen, ob es nicht besser selbst eine höhere Position in der Hierarchie einnimmt. Darin liegt begründet, dass der Reitsport den ganzen Menschen fordert. Es handelt sich nicht um eine rein „technische“ Angelegenheit, sondern mentale Stärke spielt eine gewichtige Rolle: Es gilt, unserem Pferd durchgängig zu beweisen, dass wir dieser verlässliche Anführer sind, bei dem es sich wohlfühlen kann.

 

Wichtige Eigenschaften eines solchen Herdenchefs sind diese:

 

1. Das gemeinsame Ziel klar vor Augen und viel Lob für die Ausführung

Nur wer genau weiß, was er will, was er in diesem Moment mit seinem Pferd erarbeiten möchte, kann dieses Ziel auch erreichen – und macht sich die Rückkopplung zwischen Geist und Körper zunutze: Das klare Ziel vor Augen nimmt der Reiter automatisch die passende Körperhaltung ein. Damit lenkt er den Fokus seines Pferdes auf eben dieses Zielbild und knüpft ein geistiges Band zum Pferd. Diese mentale Anlehnung gewinnt an Kraft, je konzentrierter der Reiter die gewählte Aufgabe im Hier und Jetzt angeht und so seinem Pferd selbst als Vorbild dient, an dem es sich orientieren kann. Sehr hilfreich dabei: die „Schutzglocke“. Wer sich eine Glocke um sich und sein Pferd vorstellt, an der alle störenden Einflüsse abprallen, vermag die Konzentration noch zu steigern.

Außerdem sollte der Weg zum Ziel klar sein. So können neue Aufgaben wie z. B. Kehrtwendungen, Seitengänge oder einfache Wechsel in kleine Lernhäppchen unterteilt werden, um sie dem Sportpartner Schritt für Schritt verständlich zu erklären. Sofortiges Feedback ist dabei ein wichtiges Element auf dem Weg zum Ziel. Wenn der Reiter seinem Pferd stets Rückmeldung gibt, fördert er den feinen Dialog. Das gilt besonders für positive Verstärkungen: Viel Lob sorgt dafür, dass das Pferd gern mitmacht. Und ein Pferd, das stolz auf sich selbst ist, wird seine Leistungsfähigkeit voll entfalten.

 

2. Wollen und Handeln müssen im Einklang sein

Um das Leistungspotenzial des Pferdes zur Geltung zu bringen, muss der Reiter in jedem Moment meinen, was er mit seinen Hilfen sagt, mit anderen Worten: Er muss authentisch sein. Ob das so ist, spürt das Pferd augenblicklich. Wer z. B. Außengalopp reiten möchte und denkt: „Hoffentlich springt er nicht um …“, provoziert einen fliegenden Wechsel – den wollte der Reiter doch eigentlich, oder etwa nicht?

Dies ist nur eine von vielen möglichen Situationen, in denen der Reiter missverständliche Anfragen übermittelt. Das zu vermeiden hilft ein wirkungsvolles Werkzeug aus dem Mentaltraining: der innere Zielfilm. Er lenkt den Fokus auf das Ziel, den Außengalopp. Der Reiter lässt einen Film vor seinem inneren Auge ablaufen, bei dem das Pferd rund und gerade gerichtet in Außenstellung galoppiert. Weil Körper und Geist eng miteinander verbunden sind, nimmt er automatisch die richtige Körperhaltung ein und vermittelt dem Pferd Sicherheit in dieser Aufgabe. Darauf reagiert es entsprechend und behält den Außengalopp bei.

 

3. Klare Ansagen

Um das Zielbild zu erreichen, heißt es, statt vorsichtig zu fragen, die Hilfen zu eskalieren, wo es notwendig wird: nämlich, wenn die Reaktion auf eine „geflüsterte“ Hilfe ausbleibt. So erkennt das Pferd, dass der Reiter es ernst meint, und sensibilisiert sich für unsichtbare Hilfen.

Ein Beispiel: Um aus dem Halten anzutraben, macht der Reiter sein Pferd aufmerksam, richtet sich auf und gibt dann einen vortreibenden Impuls aus dem Becken, den er mit sanft anliegenden Schenkeln unterstützt. Diese geflüsterte Bitte sollte ausreichen, um das Pferd aus dem Stand energisch im Trab antreten zu lassen. Reagiert es hingegen nicht, eskaliert der Reiter seine Hilfen:

  • … z. B. mit einem deutlicheren Schenkelimpuls (Stufe 2),
  • … mit einem geräuschvollen Wedeln der Gerte neben der Hinterhand, aber ohne diese zu berühren (Stufe 3),
  • … mit einem sanften bis energischen Touchieren der Hinterhand, wobei die gewünschte Reaktion nach vorn unbedingt mit der Hand zugelassen werden muss (Stufe 4-5).

Der Lerneffekt wird rasch erreicht, wenn die angestrebte Reaktion nach vorn sofort belohnt und die Hilfe ausgesetzt wird. Außerdem ist es wichtig, einer eskalierten Hilfe unmittelbar einen neuen Versuch folgen zu lassen und dem Pferd so die Chance zu geben, auf eine sanfte Bitte prompt zu reagieren.

Mit den Eskalationsstufen bedient der Reiter sich einem bewährten Kommunikationsprinzip aus der Natur. Pferde kennen es nur zu gut, nutzen sie doch untereinander ganz ähnliche eskalierende Gesten, um ihren Willen durchzusetzen – manchmal auch ihrem Menschen gegenüber.

 

4. Pferde lieben Ruhepole

Deshalb gilt es für den Reiter, alles aus der Ruhe heraus zu entwickeln.

Wem es gelingt, klar zu sein und in jeder Situation souverän zu bleiben, vermag einen großen Einfluss auf sein Pferd auszuüben. Es orientiert sich an diesem Ruhepol. Das allerdings will eingeübt werden. Dann kann der Reiter nach Belieben 100 % Energie abfragen und ebenso schnell die Energie vollkommen reduzieren und das Pferd in die Entspannung leiten. Wer den Energielevel seines Pferdes gezielt einstellen kann, erreicht zweierlei: Er kann es jederzeit zu aktiver Mitarbeit auffordern, aber genauso nach einer anstrengenden und mental herausfordernden Übung wieder entspannen.

 

Eine effektive Strategie, um den Energielevel zu bestimmen, ist der AN-AUS-Schalter:

Der Reiter variiert zunächst zwischen den beiden Extremen: „Totale Entspannung“ (= AUS) und „Volle Kraft voraus!“ (= AN). Dafür nimmt er als Vorbild selbst die entsprechenden Körperhaltungen ein, wobei besonders zu Lernbeginn deutlich übertrieben werden darf.

Für die völlige Entspannung heißt es folglich: sich selbst entspannen, ruhig und tief atmen, in sich zusammensacken wie ein „Kartoffelsack“. Die Botschaft an das Pferd lautet in diesem Moment: „Entspann dich und genieß den Augenblick, einfach nur sein genügt vollkommen.“ Ein sanftes Kraulen am Widerrist hilft ihm obendrein, mental loszulassen und der Entspannung des Reiters zu folgen.

Begreift das Pferd das ruhige Stehen als einen Moment der Sicherheit und des Vertrauens, kann der Reiter jederzeit zu diesem Zustand zurückkehren. Das ist insbesondere dann von großem Wert, wenn er in der weiteren Ausbildung einmal mehr Energie verlangen will – und muss, denn ohne energievollen Körpereinsatz ist kein ausdrucksvoller Tanz denkbar. Entsprechend hilfreich ist es, jederzeit „den Stecker“ wieder ziehen zu können.

Ist die Grundposition der körperlichen und mentalen Entspannung gefestigt, gilt es, auch das andere Ende der Energieskala jederzeit und überall abrufen zu können: die Bereitschaft des Pferdes, 100 % Aktivität zu entfalten und seinen Körper sportlich voll einzusetzen.

Dafür ist in der Lernphase ebenfalls eine überdeutliche Körpersprache angebracht: die Hab-Acht-Stellung. Sie kommt einer halben Parade für den Reiter gleich. Er versammelt sich selbst, streckt sich aus dem Becken heraus im ganzen Körper und erhöht seinen Muskeltonus für einen kurzen Moment. Mit der Veränderung in Körperhaltung und -spannung zieht er die Aufmerksamkeit des Pferdes auf sich – oder fordert sie andernfalls mit eskalierenden Hilfen ein. In der Folge macht sich das Pferd bereit für das, was da gleich kommen mag. Dieses Sich-bereit-Machen ist alles, was der Reiter braucht, um nun eine feine Hilfe zu platzieren und darauf die gewünschte Reaktion zu erhalten.

Sobald der Reiter in der Lage ist, zwischen beiden extremen Energieleveln – AN und AUS – zu wechseln, kann er beispielsweise das Pferd vom kadenzierten Trab in die Entspannung „zerfließen“ lassen und umgekehrt. Damit er nicht permanent selbst in der Hab-Acht-Position verweilen muss, um 100 % Mitarbeit von seinem Pferd zu erhalten, gilt es, eine weitere Position in das Spiel einzubeziehen, die Neutralposition. Nun geht es nicht mehr darum, zwischen AN und AUS zu wechseln, sondern den Schalter dauerhaft in der AN-Position zu belassen.

Die neue Lernaufgabe für das Pferd lautet jetzt, die gewünschte Bewegungsform aufrecht zu erhalten, bis eine andere Bitte folgt – wie ein Tretschlitten, der einmal angeschoben weiterfährt. Erst wenn er an Fahrt verliert, folgt der nächste Impuls. Trabt das Pferd z. B. auf die Hilfe des Reiters hin an, soll es diese Energie nun beibehalten, obwohl der Reiter selbst Energie aus seiner Haltung herausnimmt. Diese Zwischenposition ermöglicht ihm, neue Energieimpulse zu geben, ohne dabei zu verspannen.

 

5. Klare Grenzen stecken:

Damit die Selbstverantwortlichkeit in den richtigen Bahnen verläuft, heißt es von Beginn an, die Grenzen klar zu stecken – liebevoll, aber konsequent. Bei einem Pferd in der ersten Lernphase bedeutet das, die Grenzen sehr weit zu halten, bis der Neuling verstanden hat, worum es geht – z. B. sich diszipliniert führen zu lassen. Die Aufgabe könnte lauten: Der Reiter führt das Pferd und geht dabei auf Kopfhöhe mit. Hält er unvermittelt an, erwartet er von seinem Pferd, ebenso spontan anzuhalten. In der ersten Lernphase könnte er sich nun eine Toleranzgrenze von ca. 1 m davor und dahinter stecken, in der das Pferd zum Stehen kommen darf. Bis es die Grundidee erfasst hat, verdient jede noch so kleine Reaktion innerhalb dieses Rahmens ein großes Lob. Hier sorgt positive Verstärkung für den Aha-Effekt.

In der nächsten Lernphase, die von der Grobform zur Feinform führt, wird immer weiter präzisiert, sodass der vorgegebene Rahmen stets enger wird. Das Lernziel für das Pferd ist nun z. B. exakt mit seiner Schulter auf Schulterhöhe des Reiters anzuhalten. Indem dieser dafür immer feinere Hilfen benutzt und seinem Pferd sofort signalisiert, ob es das Zielbild gerade erfüllt oder seine Reaktion präzisieren soll, kristallisiert sich nach und nach die Feinform der Übung heraus. Bis sie in Fleisch und Blut übergegangen ist, gilt der enge Rahmen – mit dem entsprechenden Feedback in eine verstärkende oder eine präzisierende Richtung.

Sobald der Reiter sich auf die korrekte Reaktion seines Pferdes verlassen kann, ist es Zeit, ihm „Narrenfreiheit“ zu gewähren. Denn kaum etwas motiviert das Pferd mehr, wenn es der Meinung ist, seine eigene Idee zu verfolgen, und stolz auf sich selbst ist.

Diese fünf Kernfähigkeiten erschaffen das, was ein gelungenes Miteinander braucht: eine freundliche Atmosphäre und das Gefühl der Sicherheit für das Pferd. Eine positive Atmosphäre ist die beste Voraussetzung für ein gutes Lernklima und damit für ein partnerschaftliches Miteinander. Das Gefühl von Sicherheit ist für das Pferd mit dem Etikett der Überlebensnotwendigkeit versehen und somit essenziell für sein Wohlbefinden. Fühlt sich das Pferd gut aufgehoben, werden durch Unsicherheit ausgelöste Reaktionen vermieden – der Reiter erlebt sein Pferd als höflich. Dabei geht es einerseits um physische Sicherheit und andererseits um Handlungssicherheit. Wer seinem Pferd durch physische und mentale Anleitung beides zu vermitteln vermag, schafft die Grundlage für eine innige Beziehung. Dann wird möglich, wovon alle Reiter träumen: den gemeinsamen Tanz mit dem Pferd in vollen Zügen genießen zu können.

Dr. Tuuli Tietze

 

Über die Autorin:

Dr. Tuuli Tietze hat das Trainingskonzept SMARTreiten® geschaffen, das feine Dressur mit Horseleadership und mentaler Stärke vereint. Das Ziel: Eins sein mit dem Pferd. Die Live-Kurse und DVD-Seminare der Ausbilderin sind geprägt von ihrer Achtung gegenüber dem Mitgeschöpf Pferd. Weitere Informationen auf www.SMARTreiten.de und www.DressurCoach.de.

 

Quelle: Magazin Hofreitschule 4/2013

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